Drei Minuten mit der Wirklichkeit
Giulietta ausrichten, die Kündigung sei unwiderruflich angenommen. Die Frau war außer sich und fügte hinzu, in ihrem ganzen Leben sei sie noch nie künstlerisch so überrascht und zugleich menschlich so tief enttäuscht worden. Bevor Anita etwas erwidern konnte, hatte die Frau aufgelegt.
Drei überschwängliche Kritiken aus den großen Tageszeitungen lagen noch auf dem Wohnzimmertisch.
Das Wochenende war entsetzlich gewesen. Sie fuhren nach dem schockierenden Anruf unverzüglich zu Giuliettas Wohnung und erkannten sofort die Spuren eines überstürzten Aufbruchs. Der Anblick löste bei ihnen beiden eine Art
déjà-vu
aus, als sei diese Wohnung erneut Schauplatz eines unheimlichen Amoklaufs geworden. Und dann war Markus zusammengebrochen. Er sank auf die Couch und stammelte wirres Zeug vor sich hin, das sich erst allmählich zu einer Erklärung ordnete.
Anita hatte Mühe gehabt, zu verstehen. Erst ganz langsam begriff sie die Zusammenhänge und dann unmittelbar das ganze Ausmaß der Zerstörung, die sein Verhalten in Giulietta angerichtet haben musste. Hoffte er ernsthaft, sie würde ihm all das irgendwann einmal verzeihen können? Seine wahrscheinliche Mitschuld am Tod Damiáns? Ihres Geliebten? Ihres Halbbruders? Es lief ihr kalt den Rücken hinab, wenn sie daran dachte, was Giulietta durchgemacht haben musste. Wie wenig er doch in Wirklichkeit über seine Tochter wusste. Seine geliebte Giulietta mit ihrer unglaublichen Willenskraft. Er begriff ja gar nicht, was er ihr angetan hatte und aus welchem Stoff sie gemacht war. Ihre Leidenschaft für eine Sache, ihr Mut, ihre Absolutheit und unerbittliche Disziplin, die er immer so bewundert hatte – das war doch alles eins, in der Liebe wie im Hass.
Zunächst erreichten sie in der darauf folgenden Woche im Krankenhaus kurze Telefonanrufe von ihr. Sie waren eindeutig gewesen. Giulietta hatte ihr von vornherein die Pistole auf die Brust gesetzt. Wenn sie ihr nicht hoch und heilig versprach, ihrem Mann gegenüber absolutes Stillschweigen über ihren Aufenthaltsort zu wahren, würde sie sich nie wieder bei ihr melden.
So nannte sie ihn fortan. Dein Mann.
Anita hatte keinerlei Grund, an der Entschlossenheit ihrer Tochter zu zweifeln. Giulietta rief sie nur im Krankenhaus an. Es schien fast so, als müsse sie selbst zu ihr erst wieder Vertrauen gewinnen. Anita sah diesen Anrufen mit wachsender Ungeduld entgegen und tat alles, um die Gespräche in die Länge zu ziehen. Es dauerte fast zwei Wochen, bis sie ihr endlich sagte, wo sie sich befand.
Sie hatten nie so miteinander gesprochen wie während dieser Telefonate. Es war paradox, aber die Entfernung brachte sie einander näher.
Anita hielt Wort und klärte Markus lediglich darüber auf, dass Giulietta mit ihr in Kontakt stand, jedoch beim geringsten Versuch seinerseits, sich ihr anzunähern, jede Verbindung abbrechen würde. Er schien das zu akzeptieren, denn er glaubte offenbar, sie verstecke sich bei einer ihrer Freundinnen oder sei nur für eine gewisse Zeit verreist. Und schlussendlich hatte auch Anita gehofft, dass Giulietta früher oder später zurückkommen würde. Berlin war doch ihre Heimat.
Doch dann erfuhr sie die Ungeheuerlichkeit!
Selbst jetzt noch war ihr der Gedanke an die neue Situation äußerst unbehaglich. Die Erleichterung über die völlig überraschende Nachricht zerstreute keineswegs ihre Bedenken bezüglich der Konsequenzen. Aber aus der Ferne konnte sie sich kein Urteil bilden. Und nichts würde sie von ihrem Vorhaben abbringen, ihre Tochter zu sehen. Sie verstand Giuliettas Entscheidung, was Markus betraf. Aber sie weigerte sich, für sein unverzeihliches Verhalten für immer von ihr getrennt zu sein. Waren sie nicht schon viel zu lange getrennt?
Sie rauchte, starrte aus dem Fenster und versuchte, sich die Situation auszumalen. Warum löste die Vorstellung solch einen Widerwillen in ihr aus? Wegen ihrer mütterlichen Instinkte, die sie auf Giulietta projizierte und jetzt vereitelt sah? Sie erinnerte sich nur undeutlich an Damián. Sie hatte ihn ja nur einmal gesehen. Sie wusste noch, dass sie ihn damals attraktiv fand. Giulietta war so verliebt gewesen. Aber jetzt …?
Markus würde all dies niemals erfahren dürfen. Giulietta schärfte es ihr immer wieder ein. Sie hatte panische Angst davor, dass er der Wahrheit auf die Spur kommen und möglicherweise erneut versuchen könnte, Damián zu schaden. Anita hielt dies für sehr unwahrscheinlich. Hatte er nicht beteuert, von den Plänen
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