Der Zusammenbruch
1.
Zwei Kilometer von Mülhausen nach dem Rhein hinüber war das Lager inmitten der fruchtbaren Ebene aufgeschlagen. Unter dem schwindenden Tageslicht dieses Augustabends, unter dem trüben, von schweren Wolken durchfegten Himmel lagen die Zeltreihen und funkelten die zusammengestellten Gewehre, genau nach der ersten Zeltreihe ausgerichtet, während die Posten sie mit geladenem Gewehr bewachten, unbeweglich den Blick in den violetten, von dem großen Flusse aufsteigenden Nebeln des fernen Horizontes verloren.
Gegen fünf waren sie von Belfort gekommen. Jetzt war es acht, und die Mannschaften hatten versucht, abzukochen. Aber das Holz mußte wohl auf Abwege geraten sein, denn es konnte keins verteilt werden. Unmöglich daher, ein Feuer anzuzünden und Suppe zu kochen. Sie hatten sich damit zufriedengeben müssen, ihren Zwieback trocken herunterzukauen und ihn mit großen Schlucken Branntwein anzufeuchten, was ihnen die von Müdigkeit so schon schlaffen Beine endgültig zermürbte. Zwei Soldaten vor den Gewehrpyramiden bei der Kantine jedoch hatten es sich in den Kopf gesetzt,einen Haufen grünes Holz anzustecken, junge Baumstämme, die sie mit ihren Haubajonetten zerschlagen hatten und die ganz und gar nicht brennen wollten. Ein dicker schwarzer Rauch erhob sich langsam, unendlich schwermütig in die Luft.
Nur zwölftausend Mann lagen hier, alles was General Felix Douay vom siebenten Armeekorps bei sich hatte. Die erste Division war auf Anfordern am Tage vorher nach Fröschweiler abgegangen; die dritte befand sich noch in Lyon, und er hatte sich entschlossen, sich von Belfort aus mit der zweiten Division, der Reserveartillerie und einer unvollzähligen Kavalleriedivision vorzuschieben. Bei Lörrach waren Wachtfeuer bemerkt. Ein Telegramm des Unterpräfekten von Schlettstadt meldete, die Preußen hätten bei Markolsheim den Rhein überschritten. Der General, der sich auf dem äußersten rechten Flügel der übrigen Korps infolge des Fehlens jeder Verbindung mit ihnen zu sehr in der Luft hängen fühlte, beeilte seine Bewegung gegen die Grenze um so mehr, als am Abend vorher die Nachricht von dem unglücklichen Überfall bei Weißenburg gekommen war. Von Stunde zu Stunde konnte er befürchten, dem ersten Korps zu Hilfe gerufen zu werden, wenn er nicht selbst den Feind zurückzustoßen hätte. Irgendwo in der Nähe von Fröschweiler mußte es heute an diesem unruhigen, stürmischen Sonnabend, den 6. August, zum Gefecht gekommen sein: das lag so in diesem angstvollen, niederdrückenden Himmel, aus dem sich plötzliche Schauer, heftige, mit Angst geschwängerte Windstöße erhoben. Und seit zwei Tagen bereits glaubte die Division, es ginge ins Gefecht, dachten die Leute, die Preußen am Ende dieses Gewaltmarsches von Belfort nach Mülhausen vor sich zu finden.
Der Abend sank, der Zapfenstreich begann an einer entfernten Ecke des Lagers mit Trommelwirbel und noch schwachen, von der Luft herübergetragenen Horntönen. Und Jean Macquart, der dabei war, sein Zelt etwas besser zu sichern, indem er die Haltepflöcke tiefer einschlug, richtete sich auf. Beim ersten Kriegslärm hatte er Rognes verlassen, das Herz noch blutend von dem Trauerspiel, durch das er gerade seine Frau Franziska und die von ihr zugebrachten Ländereien verloren hatte; mit neununddreißig Jahren hatte er sich wieder gestellt, hatte seine Korporalstreifen wiederbekommen und war sofort dem 106. Linienregiment zugeteilt worden, dessen Verbände aufgefüllt wurden; manchmal wunderte er sich noch, wieder im bunten Rock zu stecken; denn nach Solferino war er so froh gewesen, den Dienst aufzugeben, nicht länger den Säbel schleppen zu brauchen, kein Menschenschlächter mehr zu sein! Aber was sollte er machen? wenn man kein Geschäft mehr hat, weder Weib noch irgendwelche Habe unter der Sonne, und das Herz einem vor Kummer und Zorn in die Kehle fährt? Dann konnte er auch ebenso wieder auf den Feind loshauen, wenn der ihm zu dumm kam. Und er dachte an seinen Kriegsruf: ah! gut Blut! Wenn er auch keinen Mut mehr hatte, sie zu bebauen, dann wollte er sie doch mit verteidigen, die alte französische Erde.
Jean stand und warf noch einen Blick über das Lager, in dem nun eine letzte Bewegung entstand. Einzelne Leute rannten umher. Andere, die schon geschlafen hatten, streckten sich in einer Art gereizter Schlaffheit. Er erwartete den Appell geduldig mit der Gemütsruhe, dem schönen, verständigen, seelischen Gleichgewicht, das ihn zu einem so vorzüglichen
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