Dreimal Liebe
und die beiden, wohlwissentlich, dass sie stören würde, allein ließ.
»Darf ich reinkommen?«, fragte Anna vorsichtig. Im nächsten Moment wurde ihr die Dummheit der Frage bewusst. Sie hatte sich nicht mal vorgestellt, woher sollte Tobias wissen, wer sie war? Gerade, als sie Luft holte, um das Versäumnis nachzuholen, kam ihr Tobias’ Stimme dazwischen.
»Anna«, platzte es aus ihm heraus. Seine Muskeln spannten sich an, er setzte sich aufrecht und verkrampfte sich. Was machte das Mädchen hier? Er spürte, wie sein Kreislauf auf Hochtouren arbeitete.
»Ja, richtig, Anna. Hallo«, sagte sie etwas verspätet und wusste nicht, ob sie seine erschrockene Reaktion als positiv oder negativ deuten sollte. »Als wir … Als ich dich … Jedenfalls hast du dabei dein Buch verloren und ich wollte es dir wiederbringen.«
Tobias gab keine Antwort, sondern hatte das Gesicht nur starr auf sie gerichtet, was Anna nur noch mehr verunsicherte. Ihre Arme klammerten sich ein bisschen fester um das Buch, drückten es näher an ihren Bauch. Die gesamten letzten drei Stunden war sie im Schneidersitz auf ihrem Bett gesessen, das Buch aufgeschlagen auf ihrem Schoß liegend, und war mit den Fingern immer wieder über die kleinen runden Erhebungen und Vertiefungen der Blindenschrift gefahren. Es war ihr ein Rätsel, wie man damit lesen konnte. Tobias musste ein sehr ausgeprägtes Fingerspitzengefühl und jahrelange Übung darin haben. Ob sie das auch lernen konnte?
Tobias räusperte sich. »Oh … Danke«, quetschte er hervor. Seine Stimme war dünn wie ein Blatt Papier.
»Soll ich es auf deinen Schreibtisch legen?«, fragte Anna, und machte einen Schritt vor und wieder zurück. Wäre es okay, wenn sie die Türschwelle übertrat?
Tobias nickte und wurde sich erst jetzt bewusst, dass Anna offensichtlich immer noch vor der Tür stand. Nach den ganzen Erlebnissen des heutigen Tages musste sie ihn für den unfreundlichsten Menschen der Welt halten. Er hörte Annas zögerliche Schritte näher kommen, und ein kurz darauf folgendes und leises Geräusch signalisierte ihm, dass sie das Buch abgelegt haben musste.
Stille kehrte ein.
Und je länger sie andauerte, desto lauter schien sie zu werden.
Anna begann erneut das Spiel mit ihren Jackenärmeln und ließ den Blick nervös durch Tobias’ Zimmer schweifen, das er, so wurde ihr bewusst, noch nie selbst gesehen hatte.
Was sollte sie ihm denn sagen? Sie biss sich mehrmals auf die Lippe, fand keine Antwort auf die Frage, spürte nur, dass von Sekunde zu Sekunde der Druck größer wurde. Als die Situation den Punkt erreichte, an dem sie nicht mehr unangenehmer werden konnte, nahm sie schließlich all ihren Mut zusammen. »Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Es war keine Absicht gewesen. Es tut mir so leid. Ich hoffe, du hast dich nicht verletzt.«
»Nein, alles gut«, sagte Tobias sofort. »Im Gegenteil, ich muss mich entschuldigen.«
Anna zog die Stirn kraus. »Warum solltest du dich entschuldigen müssen? Ich habe dich umgerannt.«
»Nicht so schlimm, ich falle öfter mal hin«, sagte Tobias und zuckte mit den Schultern, war dabei aber bei weitem nicht so lässig, wie er nach außen hin versuchte zu wirken.
Anna war unsicher, wie sie mit dieser Aussage umgehen sollte, erst recht dann, als sie Tobias’ Unbehagen deswegen bemerkte. Er machte den Eindruck, als wäre es ihm peinlich. Wie konnte es ihm peinlich sein, wenn sie ihn umgerannt hatte?
»Das hat aber nichts damit zu tun, dass du … weil du …« Sie brach ab. Der Satz führte in keine gute Richtung. In gar keine gute Richtung. Sie begann neu. »Ich renne öfter mal gegen Leute, musst du wissen. Das hat überhaupt nichts mit dir zu tun. Als ich drei Jahre alt war, dachte ich, mein Name wäre ›Vorsicht!‹. Mit fünf habe ich dann begriffen, dass es nach ›Vorsicht!‹ in der Regel ›Dong‹ macht.« Sie rollte die Augen, als sie an ihren nächsten Satz dachte. »Mein Vater sagt immer, ich wäre ›umwerfend‹. Dummerweise bezieht er das auf andere Menschen und meint es wortwörtlich.«
Anna hielt den Atem an. War der Versuch zu kläglich, um Tobias aufzuheitern? Doch dann passierte es. Das war das erste verdammte Mal, dass sie ihn Lächeln sah. Sie fand Gefallen daran. Fand Gefallen an jedem einzelnen Millimeter, den sich seine Mundwinkel weiter nach oben schoben und dieses charmante aber doch irgendwie schalkhaft wirkende Lächeln bildeten. Sein Gesicht wirkte dadurch viel weicher, verlor die Härte, die sich sonst
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