Dreimond - Das verlorene Rudel
der Schlucht gekämpft haben, ist er plötzlich verschwunden.«
»Das fällt euch früh auf!«, stöhnte Lex.
»Er hätte hier sein müssen!«, sagte Neuschnee und in ihrer Stimme lag tiefe Sorge. »So war es ausgemacht. Falls wir uns verlieren, sollte der Geißelbruch unser Treffpunkt sein.«
»Aber er ist nicht hier und wir können nicht warten«, knurrte Lex.
Carras biss sich auf die Lippen.
Fiona blickte hin- und hergerissen von Lex zur Wolfsfrau. Die Angst vor etwas, das sie nicht in Worte fassen konnte, saß ihr im Nacken und sie wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte, als schwach und gedämpft die Stimme des Leitwolfs erklang. Obschon Serafin erschöpft an Carras‘ Schulter lehnte, lag ein Gewicht in seinen Worten, das jeden Widerspruch unmöglich machte.
»Neuschnee hat uns geholfen. Wir warten.«
Die Augen der Wolfsfrau weiteten sich vor Verblüffung. Ein breites, glückliches Lächeln, das Fiona nie, wirklich noch nie, an ihr gesehen hatte, erhellte Neuschnees Züge, als sie ihnen – wohl vor allem Serafin – versprach, »ihr werdet ihn mögen!«
*
Die Wachen am westlichen Ende des Waldes bemerkten ihn spät, den Jungen, der zögernd, zaudernd aus dem Wald zu ihnen trat. Das war kein Wunder, denn sie waren mehr als missmutig an diesem kalten Morgen, war es ihnen doch verwehrt geblieben, beim großen Spektakel im Sintgrund dabei zu sein. Gab es etwas Ärgerlicheres, als in der Nacht der Nächte außen vor zu bleiben, um im Morgengrauen Wachdienst zu schieben?
Mit gesenkten Schultern schlurften sie am Waldesrand entlang, warfen einander düstere, vor Selbstmitleid triefende Blicke zu und verfluchten den gähnend langen Morgen tausendfach – bis der Junge auftauchte.
Sie kamen zusammen, als sie erkannten, um wen es sich handelte. Sie gafften und staunten und ballten die Fäuste, als er stockend erzählte, was geschehen war. Sie redeten auf ihn ein, bis er zwei Worte sagte.
»Am Geißelbruch.«
Jetzt ließen sie ihn stehen. Und rannten.
*
Blitzschweif war nicht gekommen. Immer verzweifelter hatten sie gewartet, bis über Carras’ Lippen endlich der Satz gekommen war, der Neuschnee überzeugt hatte.
»Vielleicht wartet er ja am Ende des Gangs!«
Lex, der nach Neuschnee, die Serafin stützte, in den Geißelbruch gestiegen war, hatte vor Erleichterung, dass es endlich weiterging, beinahe seine Müdigkeit vergessen.
Nicht für lang. Je tiefer der hohe, enge Steinschlund in die Erde führte, je näher sich die dunklen Wände kamen, desto mehr schien der alte Fels den Wölfen ihre letzte Kraft zu rauben.
Lex musste sich bald an den Steinen abstützen. Er sah, wie Serafin vor ihm immer öfter ins Straucheln geriet.
Und auch Carras und Fiona, die hinter ihm gingen, kamen nur langsam voran.
So quälten sie sich durch den alten Berg – lautlos, denn Neuschnee hatte sie gewarnt.
Die Schwarze Sichel nutzt diesen Weg nicht, weil der Tunnel längst nicht mehr sicher ist. Sprecht zu laut und lose Steine stürzen nieder!
Und das sollte der sicherste Weg aus dem Wald sein …?
Lex fluchte in Gedanken auf die Wölfin. Er verbot sich, tief Luft zu holen, als könnte sein Atem allein die Gefahr aus der Höhe herabbeschwören, während sie immer tiefer in das Herz des Berges vordrangen.
Längst konnte sie nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Die Wolfsfrau, die vorausging, hatte eine kleine Lampe bei sich, doch deren schwaches Licht umfasste lediglich sie und Serafin, der sich auf ihre Schulter stützt. Es war, als wollte Neuschnee ihn und sich mit ihrem Licht von den anderen abschirmen.
Tastend versuchte Lex vorwärtszukommen.
Er musste mit seinen Fingern sehen … Während seine Hände anstelle seiner Augen den Weg ergründen mussten, und seine Füße ihn wie fremdgesteuert vorwärtstrugen, verlor sich sein Geist.
Von Wänden eingeschlossen, war es ihm, als befände er sich in Gefangenschaft, und verloren in seinen Gedanken sah er das Klosterheim und den alten Kuttenträger vor sich … Die Einsamkeit, die Prügel … All die bösen Erinnerungen, die sich niemals hervorwagten, wenn er ganz bei Kräften war, sich immer nur zur dunklen Zeit einschlichen, als wüssten sie, wann sie ihr Spielchen mit ihm treiben konnten …
Verdammt!
Ein spitz hervorstehender Stein riss ihn schmerzhaft aus seinen Gedanken.
Er war ein Trottel, warum passte er auch nicht besser auf?
Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr sich der Gang verengte. Er war der Breiteste in der Gruppe –
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