Dreimond - Das verlorene Rudel
sein!
»Blitzschweif …?«, flüsterte Neuschnee hoffnungsvoll.
Keiner wagte, ihr zu widersprechen. Keiner wollte sich ausmalen, wen die Laute aus der Tiefe noch ankündigen könnten. Wer konnte schon sagen, wie viele Füße es waren, wo das Echo jeden Ton verfälschte.
Fiona sah zu Serafin und zu Lex, der tief zu schlafen schien, zuletzt auf die weite, endlos weite Fläche, die kahl und brach vor ihnen lag.
Stille. Bis auf die Schritte aus der Dunkelheit.
Neuschnee sah den Schwarzen lange an, reichte Carras ihre Flasche und richtete sich auf.
»Ich werde nachsehen.«
»Allein?«, keuchte Fiona und holte tief Luft. »Das wäre nicht gerecht! Ich komme mit dir!«
»Wie du meinst …«, entgegnete die Weiße teilnahmslos, und ging langsam, wie in Trance, auf den Tunnel zu.
Fiona wollte der Wölfin folgen, als eine Hand sie fest zurückhielt.
»Du bleibst hier!«
»Was?«
Sie sah ungläubig auf Lex, der, noch immer im Sitzen, eisern ihr Handgelenk umfasste.
»Was soll das?«, flüsterte sie ungeduldig. »Lass mich los!«
»Ich …«, murmelte der Wolfsmann, »… hab’s dir versprochen. Ich pass auf dich auf.«
»Und?«
»Ich … kann grad‘ nicht aufstehen …«
»Und?«
»Darum musst du bei mir bleiben.«
Sie erschrak, als er sie plötzlich zu sich auf den Boden zog. Ihr wurde warm, als er sie an sich drückte.
»Und so im Sitzen willst du mich beschützen? Wie willst du das denn anstellen?«, raunte sie ihm dennoch herausfordernd zu.
Er zuckte mit den Achseln.
»Ich steck’ dich in meine Tasche und behalt’ dich dort?«
Sie musste lächeln. Da spürte sie den Blick der weißen Wolfsfrau auf sich. Sofort versuchte sie unbeholfen, sich aus seiner Umarmung zu befreien.
»Bleib hier«, sagte Neuschnee. »Es ist gut.«
Verwundert sah sie zu ihr auf. Die grünen Augen hatten sich verändert. Sie schienen warm, vielleicht zum ersten Mal.
Fiona nickte langsam.
Die Weiße hielt kurz inne und kniete sich ein letztes Mal zu Serafin.
*
Schattenklaue. Sie sah ihn an. Seine ihr so vertrauten Züge, die nun von tiefer Erschöpfung gezeichnet waren. Sie legte ihre Stirn auf seine.
»Vielleicht«, flüsterte sie die Worte, die nur für sie beide bestimmt waren, »hätte ich dich einfach in meine Tasche stecken und mitnehmen sollen, als ich dich endlich gefunden hatte. Vielleicht war es falsch, dich zurück zum Rudel zu führen. Aber Schattenklaue …«
Sie umfasste seine Hände.
»… da war etwas … jemand, den ich dir zeigen wollte. Ihr solltet euch begegnen!«
Sie zögerte, rückte ein Stück von ihm ab.
»Hörst du mich, Schattenklaue?«, fragte sie eindringlich.
Er nickte kaum merklich.
»Blitzschweif … Er ist dein Sohn.«
Sie erschrak beinahe, wie schnell die Worte über ihre Lippen gekommen waren, die zehn Jahre nur Lügen hatte formen müssen.
Und nun, plötzlich, die Wahrheit.
Sie war frei.
*
Es war nicht Schattenklaue, der dem Jäger in der Finsternis des Tunnels entgegentrat.
Es war die Weiße. Die Alkarnswölfin. Die Verräterin.
Sie hatte ein Messer. Ein Blitzen in der Dunkelheit.
Seine Hand, sein ganzer Körper, zitterte vor Zorn und Ungeduld, es seinem Erzfeind heimzuzahlen.
»Tritt zur Seite!«, drohte er hasserfüllt.
»Kehr um!«, entgegnete die Wölfin. Ihre Hand war ruhig. So stand sie dem Jäger gegenüber, schemenhaft, bewegungslos.
Abfällig spuckte Bluter aus.
»Kehr um und verschwinde von hier!«, sagte sie ein zweites Mal, als hätte sie nicht längst ihr Recht verwirkt, ihm, dem Jäger zu befehlen. Oder auf seine Gnade zu hoffen.
»Glaubst du wirklich, ich würde gehen, bevor er tot ist?«
»Er wird leben.«
»Das«, raunte Bluter und grinste mitleidlos, »liegt nicht mehr in deiner Hand.« Er sah, wie sie aufhorchte, wusste, dass sie jetzt erst die Wächter hinter ihm vernahm, die unabwendbar näher rückten. Es waren viele. Immer mehr traten in den Tunnel.
Wonne durchfuhr ihn, als er das überhebliche Weib angstvoll seufzen hörte. Jetzt war sie für ihn mehr als nur eine lästige Hürde, die er auf dem Weg zu Schattenklaue nehmen musste – jetzt freute er sich darauf, ihr wehzutun.
Er spürte die Angst in ihr, bemerkte, wie sie ob der Übermacht der Feinde, hilflos die Arme senkte. Er nutzte seine Chance und schnellte los. Sie schrie. Schrie, noch bevor er sie zu fassen bekam.
Da weiteten sich Bluters Augen vor Entsetzen. Er sah sie noch lächeln. Dann stürzten die Steine herab.
*
»Sie sind tot«, sagte
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