Dreimond - Das verlorene Rudel
Verrückten ab!«, posaunte ein anderer, noch ehe Nanna dem ersten Rüpel etwas entgegnen konnte.
»Die geht wieder die seltsame Kleine am Waldesrand besuchen.«
Emerald lachte zustimmend. »Sag Fiona, sie soll ihre Kobolde von uns grüßen.«
Nanna warf dem Sohn des Schweinehirten einen vernichtenden Blick zu, ehe sie erhobenen Hauptes über den Platz aus dem Dorf marschierte.
Sie wusste, dass sie sich solche Scherze nicht zu Herzen nehmen sollte, und doch machte es sie wütend, wenn man sie und ihre Künste so wenig zu schätzen wusste. Damals, als sie noch jung gewesen war, hätte man es nicht einmal gewagt, dem Dorfheiler zu widersprechen. Nein, Nanna verlangte keine Ehrfurcht, aber in einem war sie sich sicher: Es stand schlecht um das Dorf, wenn die Jugend den Respekt vor, nein, noch schlimmer, den Glauben an Ahnen und Schutzgeister verlor, denen sie sich als Heilerin verschworen hatte. Was der lange Arm strenger Kirchenmänner in all den Jahren nie ganz zerstört hatte, schien nun einem neuen Glauben zum Opfer zu fallen: dem blinden Vertrauen auf die sogenannte moderne Medizin. Nanna schnaubte.
Nicht nur die Jungen vergaßen die zauberischen Traditionen des abgelegenen Dorfes, auch die Älteren, die es doch besser wissen sollten, suchten, sofern sie sich seine teuren Pillen leisten konnten, lieber den Rat des Arztes aus Coms, weit hinterm Johannisforst, als an ihrer nahen Tür zu klopfen.
Grimmig lief sie aus dem Dorf, stieg den steilen, steinigen Abhang hinauf zum Waldesrand. Ihr kamen die Worte des Bengels wieder in den Sinn: Sag Fiona, sie soll ihre Kobolde grüßen!
Nanna musste schmunzeln. Tja, solange es noch Mädchen wie Fräulein Fiona gab, musste sie sich keine Sorgen machen, dass die alten Lehren von Kräutern und Geistern gänzlich in Vergessenheit gerieten. Es war wirklich kein Wunder, dass das junge Ding, das dort oben allein am Waldesrand lebte, den Leuten in Liebstein ein Rätsel war. In einem Alter, in dem die anderen Mädchen beim Tanzen in engen Miedern und bunten Röcken ihre frisch erlangte Weiblichkeit feierten, war Fräulein Fiona überaus dünn, blass und schmächtig geblieben. Als kleines Kind war sie mit ihrem Vater in das lang schon verlassene Forsthaus zwischen Dorf und Wald gezogen. Schon bald hatten sich in Liebstein zahlreiche Gerüchte um den Fremden verbreitet, der offenbar ein reicher Kaufmann war. Mit einer Mischung aus unverhohlener Bewunderung und neidischer Ablehnung hatten die Dörfler den Neuankömmling beäugt. Kaum hatte man sich allerdings an den Kaufmann gewöhnt – auf Dauer schien es die Leute zu langweilen, immer über ein und dieselbe Person zu tratschen –, war er auch schon wieder verschwunden. In einem privaten Gespräch mit dem Dorfvorsteher, über das Minuten später ganz Liebstein Bescheid wusste , hatte er erklärt, für einige Zeit auf eine dringliche Reise gehen zu müssen. Er spendete dem Dorf eine beträchtliche Summe, nachdem er dem Vorsteher das Versprechen abgenommen hatte, bis zu seiner Rückkehr für seine Tochter zu sorgen.
Das war nun sieben Jahre her. Fionas Vater war nicht zurückgekommen. Und doch schien er am Leben zu sein, denn manchmal brachten Boten, die beim Bier in der Dorfschenke verblüffende Geschichten über ferne Länder mit absonderlichen Sitten zu erzählen hatten, Pakete zum Forsthaus des Fräuleins. Fremdartige, zumeist weiße Kleider mit ausladenden Volants und Puffärmeln waren darin, Gewänder, die das blasse Mädchen mit dem aschbraunen Haar voller Begeisterung trug. Es störte sie offenbar wenig, dass ihr zarter Körper in den weiten Stoffen zu verschwinden schien.
Nanna lachte. Nein, es war wirklich kein Wunder, dass die Dörfler das Fräulein für seltsam hielten.
So hatte man nach einigen Versuchen, die Kleine dazu zu bewegen, ins Dorf zu ziehen, eine einvernehmliche Entscheidung getroffen. Man würde das Versprechen, für Fiona zu sorgen, nur so weit einhalten, als dass man einmal die Woche Nahrungsmittel den Hang zu ihr hinaufbringen, ansonsten aber einen großen Bogen um das alte Forsthaus und seine seltsame Bewohnerin machen würde.
Einzig Nanna war recht häufig dort, hatte sie doch das blasse Fräulein, das früher nicht selten gekränkelt hatte, oft behandeln müssen. Dank Nanna war Fiona heute, mit ihren fünfzehn Jahren, wesentlich kräftiger und gesünder als zuvor. Trotzdem besuchte sie Fiona weiterhin gern, schätzte sie doch ihre Eigenarten, über die die Dorfbewohner meist nur die Nase
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