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Dringernder Verdacht

Dringernder Verdacht

Titel: Dringernder Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Gefrierbeutel. Ich suchte in der Küchenschublade nach einem dicken
Filzstift, kennzeichnete den Beutel mit einem nicht sehr kunstvollen Totenkopfemblem
und packte ihn in den Kühlschrank. Ich schälte mich aus meiner Jacke, setzte
mich auf einen Hocker und studierte das Pinnbrett mit der orange-grün-weißen
Karteikartenlandschaft.
    Es war ein bedrückender Gedanke, dass
sich da womöglich genau vor meiner Nase etwas Wichtiges verbarg — etwas, das
Morley das Leben gekostet hatte, weil er darauf gekommen war. Was konnte es
sein? Ich ließ meinen Blick die eine Kärtchenreihe hinaufwandern und die
nächste wieder hinunter, versuchte, mir den mutmaßlichen Gang der Ereignisse zu
vergegenwärtigen. Ich stand auf, wanderte im Zimmer auf und ab, kam wieder
zurück und musterte erneut das Brett. Ich ging zur Couch, legte mich rücklings
darauf und starrte an die Decke. Denken ist harte Arbeit, deshalb sieht man so
selten Leute, die es tun. Die Unruhe packte mich wieder, und ich stand auf,
ging an den Essplatz zurück und überflog, auf die Ellbogen gestützt, noch
einmal das Pinnbrett.
    »Bitte, Morley, komm schon, hilf mir«,
murmelte ich.
    Oh.
    Ha, da war eine kleine Unstimmigkeit,
der ich bisher weiter keine Beachtung geschenkt hatte. Laut Regina Turner vom
Gipsy Motel war Noah McKell um 1 Uhr 11 nachts angefahren worden. Aber Tippy
war erst um circa 1 Uhr 40 an der Kreuzung San Vicente und 101 aufgetaucht,
eine halbe Stunde später. Wieso hatte sie bis dorthin so lange gebraucht? Es
waren doch sicher nur vier oder fünf Minuten vom Gipsy bis zu der Abfahrt.
Hatte sie erst noch einen Kaffee getrunken? Getankt? Sie hatte gerade einen
Menschen totgefahren, und nach Davids Aussage war sie sichtlich verstört
gewesen. Es war schwer vorstellbar, was sie eine halbe Stunde lang getrieben
haben sollte. War sie einfach nur ziellos durch die Gegend gefahren? Ich konnte
mir zwar nicht denken, wofür die Antwort wichtig sein sollte, aber sie
herauszubekommen war sicher nicht weiter schwierig.
    Ich griff zum Telefon und drückte die
Parsonssche Nummer. Ich starrte auf mein Pinnbrett, während es am anderen Ende
läutete. Acht, neun. Oh, klar, Freitagabend. Das hatte ich ganz vergessen: Rhes
Ausstellungseröffnung in der Axminster-Galerie. Ich holte das Telefonbuch
hervor und suchte die Nummer heraus. Diesmal nahm schon beim zweiten Läuten
jemand ab, aber im Hintergrund war so ein Krach, dass ich kaum etwas verstand.
Ich presste die andere Hand auf mein freies Ohr und konzentrierte mich ganz auf
das, was aus dem Hörer kam. Ich fragte nach Tippy, erzielte jedoch erst eine
Reaktion, als ich mein Ansinnen mit doppelter Lautstärke und Frequenz
wiederholte. Der Typ am anderen Ende meinte, er würde sie holen. Ich wartete,
hörte Gelächter und Gläserklirren. Hörte sich an, als hätten sie dort weit mehr
Spaß als ich...
    »Hallo?«
    »Hallo, Tippy? Hier ist Kinsey. Hören
Sie, ich weiß, es ist ein ungünstiger Moment, aber ich habe gerade noch einmal
darüber nachgedacht, was in der Nacht geschah, als Ihre Tante ermordet wurde.
Kann ich Ihnen kurz ein paar Fragen stellen?«
    »Jetzt?«
    »Wenn irgend möglich. Mich interessiert
die Zeit zwischen Ihrem Unfall und dem Moment, als Sie David gesehen haben. Was
war da?«
    Schweigen. »Ich weiß nicht. Na ja, ich
bin zu meiner Tante gefahren, aber sonst nichts.«
    »Sie waren bei Isabelle?«
    »Ja. Ich bin hingefahren. Ich war so
durcheinander und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte ihr erzählen,
was passiert war, und sie bitten, mir zu helfen. Wenn sie gesagt hätte, ich
soll zurückfahren, hätte ich’s getan. Ich schwör’s.«
    »Könnten Sie bitte lauter sprechen?
Wann war das?«
    »Gleich nach dem Unfall. Ich wusste,
ich hatte den Mann erwischt. Da bin ich davongerast und direkt zu ihr gefahren.«
    »War sie da?«
    »Ich glaube schon. Das Licht brannte...«
    »Das Licht über der Tür war an?«
    »Ja, klar. Ich habe geklopft und
geklopft, aber sie ist nicht heruntergekommen.«
    »War der Spion noch heil?«
    »Ich habe nicht darauf geachtet.
Nachdem ich geklopft hatte, bin ich ums Haus herumgegangen, aber es war alles
zu. Also bin ich wieder in meinen Wagen gestiegen und nach Hause gefahren.
    »Über den Freeway?«
    »Klar. Ich bin an der Little Pony Road
draufgefahren.«
    »Und am San Vicente wieder runter.«
    »Ja, genau«, sagte sie. »Wieso, ist
etwas?«
    »Nein, nichts weiter. Es grenzt den
Todeszeitpunkt genauer ein, aber ich wüsste nicht, was das ausmachen

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