Dringernder Verdacht
Gesten,
Beklemmungen und plötzliche Essstörungen. Zudem hatte ich den Urheber der
ganzen Misere mit einem steten Strom hässlicher Gedanken überschwemmt. Seit
einiger Zeit jedoch fragte ich mich, ob nicht doch etwas dran war an der Sache
mit dem unbewussten Wunsch, formlos abserviert zu werden. Vielleicht hatte ich
die CF ja einfach satt. Vielleicht war ich ja ausgebrannt. Vielleicht wollte
ich einfach mal einen Tapetenwechsel. Wie auch immer — ich begann mich damit
abzufinden und fühlte schon wieder Optimismus in mir aufsteigen wie Ahornsaft.
Es war nicht nur eine Sache des Überlebens. Irgendwie, das wusste ich, würde
ich es ihnen zeigen.
Fürs Erste hatte ich einen Raum im
Anwaltsbüro Kingman und Ives gemietet. Lonnie Kingman ist Anfang vierzig,
gerade einssechzig groß, zwei Zentner schwer, ein fanatischer Gewichtheber und
permanent voll gepumpt mit Steroiden, Testosteron, Vitamin ß 12 und
Koffein. Er hat zottelige schwarze Haare wie ein Pony im Fellwechsel. Seine
Nase sieht aus, als sei sie ebenso oft gebrochen worden wie meine. Den diversen
gerahmten Diplomen an der Wand habe ich entnommen, dass er seinen Bachelor in
Harvard, seinen Magister an der Columbia Universität und seinen Doktor summa
cum laude an der rechtswissenschaftlichen Fakultät von Stanford gemacht
hat.
Sein Partner John Ives hält es, trotz
durchaus ebenbürtiger akademischer Qualifikationen, mehr mit den stillen,
unscheinbaren Seiten des Anwaltsmetiers. Seine Spezialität sind zivilrechtliche
Berufungsverfahren, und auf diesem Gebiet gilt er als sehr einfallsreich und
gründlich und als Formulierungskünstler in seinen Schriftsätzen. Seit Lonnie
und John das Anwaltsbüro vor etwa sechs Jahren gründeten, hat sich der
Mitarbeiterstab ständig vergrößert. Derzeit umfasst er eine Empfangskraft, zwei
Sekretärinnen sowie einen Gehilfen, der gleichzeitig als Bote fungiert. Martin
Cheltenham, der der Kanzlei als dritter Anwalt, wenn auch nicht als offizieller
Sozius angehört, ist Lonnies bester Freund und hat seinen Büroraum ebenso von
ihm angemietet wie ich.
Die schicken Prozesse in Santa Teresa
gehen offenbar alle an Lonnie Kingman. Bekannt ist er vor allem als
Strafverteidiger, aber seine Leidenschaft sind komplexe Verfahren, bei denen es
um Zivilklagen im Zusammenhang mit Unfallverletzungen oder Todesfällen geht,
und anlässlich einer solchen Sache hatten sich auch unsere Wege gekreuzt. Ich
hatte seither öfter für Lonnie gearbeitet und dachte mir, er wäre — abgesehen
davon, dass ich seine Dienste gelegentlich selbst benötige — eine gute
Referenz. Und aus seiner Sicht konnte es nicht schaden, eine Detektivin auf der
Etage zu haben. Wie bei der California Fidelity war ich nicht angestellt,
sondern freie Mitarbeiterin. Ich erbrachte bestimmte Leistungen und stellte sie
entsprechend in Rechnung. Zur Feier dieses neuen Arrangements erstand ich einen
schmucken Tweed-Blazer zu meinem Normalaufzug aus Jeans und Rollkragenpullover.
Ich fand mich ganz schön peppig in meinem neuen Outfit.
Es war ein Montag Anfang Dezember, als
ich das erste Mal mit dem Mordfall Isabelle Barney in Berührung kam. Ich war an
diesem Tag zwei Mal runter nach Cottonwood gefahren, jeweils gute fünfzehn
Kilometer hin und zurück, um einem Zeugen in einem Prozess wegen Beteiligung an
einer Schlägerei eine Vorladung zuzustellen. Das erste Mal war er nicht zu
Hause. Beim zweiten Mal erwischte ich ihn, als er, von der Arbeit kommend,
gerade in seine Einfahrt einbog. Ich händigte ihm, unter Nichtbeachtung seines
Unmuts, die Papiere aus und machte mich wieder davon, das Autoradio voll
aufgedreht, um seine wenig feinen Geleitworte zu übertönen. Es waren ein paar
Ausdrücke darunter, die ich seit Jahren nicht mehr gehört hatte. Auf dem
Rückweg fuhr ich noch beim Büro vorbei.
Die Firma Kingman residiert in einem
dreistöckigen Gebäude mit überdachten Autoabstellplätzen zu ebener Erde und
zwei Büroetagen darüber. Über die Vorderfront verteilen sich sechs raumhohe,
zweiflügelige Glasfenster, die nach innen aufgehen und der Durchlüftung dienen.
Jede dieser Türen ins Nichts wird flankiert von hölzernen Läden im sanften Grün
oxidierten Kupfers, und die untere Hälfte der Fenster wird von schmiedeeisernen
Gittern gesichert, die vor allem dekorativen Zwecken dienen, aber im Notfall
wohl auch einen lebensmüden Hund oder das quengelige Kind einer Klientin daran
zu hindern vermögen, sich vor lauter Genervtheit hinabzustürzen. Das Gebäude
reicht
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