Dschungelkind /
Dieser Zug sieht anders aus als die Züge, die ich in Büchern gesehen habe. Er ist nicht mit Blumen geschmückt, es kommt kein Rauch aus einem Schornstein, und die Farbe ist auch anders. Dieser Zug ist so groß und unheimlich wie ein langer weißer Wurm, der aus einem schwarzen Loch hervorkriecht.
Als er schließlich zum Stehen kommt, beginnen die Menschen wie besessen einzusteigen. Ich verharre noch einige Sekunden unbeweglich, vergesse für einen Moment die Kälte und schaue dieses riesige Fahrzeug vor mir an. Neugier und Angst befallen mich gleichzeitig. Da bemerke ich eine Nummer an der Seite des Waggons vor mir. Ich vergleiche sie mit der auf meinem Fahrschein und sehe, dass sie nicht übereinstimmen. Ich wende mich nach rechts und nach links, der Zug scheint unendlich lang. Kopflos beginne ich zum hinteren Teil des Zuges zu laufen. Die Nummern der Waggons haben nichts mit denen auf meiner Fahrkarte zu tun. Plötzlich höre ich einen lauten Pfiff. Ich schrecke zusammen und schaue mich um.
Ein Mann in Uniform hält einen eigenartigen Stab nach oben. Panik kommt in mir hoch, als ich merke, dass es etwas mit der Abfahrt zu tun hat, und schnell springe ich durch die nächste Tür ins Innere. Gerade rechtzeitig, denn schon beginnt der Zug sich zu bewegen.
Ich stehe einen Augenblick da und weiß nicht, was ich machen soll. Mein Herz klopft so stark, als wolle es zerspringen. Da bemerke ich, dass es Türen gibt, die es ermöglichen, durch die einzelnen Wagen zu gehen. Ich laufe los nach vorn. Ich fange an zu schwitzen und sorge dafür, dass ich bloß keinen Augenkontakt mit Fremden aufnehme. Die Waggons scheinen niemals aufzuhören, es geht weiter und weiter. Plötzlich stehe ich in einem Abteil, das schöner aussieht als die, die ich gerade durchlaufen habe – es ist die Erste Klasse. Es gibt keinen Durchgang mehr. Ratlos bleibe ich stehen. Meine Augen füllen sich mit Tränen.
In diesem Moment taucht ein Mann aus einem Abteil auf und sieht mich. Ich wende mich schnell ab, aber er kommt auf mich zu. Er fragt, ob er mir helfen kann. Ich sehe ihn an, er scheint Ende dreißig zu sein, dunkler Anzug, braune Haare und hellblaue Augen. Ich zeige ihm meine Fahrkarte und frage ihn nach dem Waggon mit dieser Nummer. Gerade kommt auch ein Mann in Uniform den Gang herunter. Nach einem Blick auf meinen Fahrschein teilt er mir gleichgültig mit, dass ich im falschen Zug sei. Mein Herz steht still, ich werde ganz blass im Gesicht. Der Schaffner muss meine Angst gesehen haben, weil er mich schnell beruhigt und mir erklärt, dass es ausnahmsweise zwei Züge gibt, die beide zum selben Zielort fahren.
Ich frage ihn, was ich jetzt machen soll, während ich mit immer größerer Panik kämpfe. Er erklärt mir, dass wir bald anhalten werden und ich dann in den nächsten Zug auf demselben Gleis einsteigen kann.
Nachdem er die Fahrkarte des Mannes mit den blauen Augen kontrolliert hat, der noch immer neben uns steht, verabschiedet sich der Schaffner und geht weiter. Ich schaue ihm nach, spüre einen großen Knoten im Hals und fühle mich sofort wieder völlig hilflos und ausgeliefert. Ich stehe allein mit einem fremden weißen Mann in einem halbdunklen Waggon, in einem fremden Land. Der Gedanke, dass er mich vergewaltigen könnte oder sogar töten, um mich zu bestehlen, schießt durch meinen Kopf. All die Geschichten, die ich über die Gefahren der modernen Welt gehört habe, scheinen Realität zu werden. Wie kann ich mich schützen? Ich habe weder Pfeil und Bogen noch ein Messer bei mir.
Der fremde Mann fragt mich mit einem mitleidigen Lächeln, ob ich nicht in sein Abteil kommen möchte, um dort auf meine Haltestelle zu warten. Ich schüttle den Kopf und antworte, dass ich lieber hier im Gang warte. Er versucht es noch einmal mit der Bemerkung, dass es im Abteil aber viel bequemer sei. Jetzt bin ich mir sicher, dass er mir etwas antun will. Ich sage nein, nehme meinen Koffer und fliehe in den kleinen Freiraum zwischen den Waggons. Er folgt mir und fragt, woher ich komme. Aus Hamburg, antworte ich mit zitternder Stimme.
Zu meiner großen Erleichterung verlangsamt der Zug in diesem Moment seine Geschwindigkeit. Ich stehe vor der Tür, der fremde Mann noch immer hinter mir. Ich bete, dass er wieder weggehen möge. Als der Zug zum Stehen kommt, will ich aussteigen, aber die Tür öffnet sich nicht. Was jetzt? Muss ich irgendwo drücken oder schieben? Ich rüttle an den Griffen, aber es passiert nichts. Da drängt sich der Fremde an
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