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Dschungelkind /

Dschungelkind /

Titel: Dschungelkind / Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Kuegler
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mir vorbei, dreht einen roten Hebel, und die Zugtür öffnet sich.
    Was für eine Erleichterung, als ich endlich den Bahnsteig vor mir sehe! Noch ein Schritt, und ich bin außer Gefahr. Ich bedanke mich schnell und trete ins Freie.
    Die Türen schließen sich hinter mir, und ich sehe noch die dunkle Gestalt des Fremden am Fenster des abfahrenden Zuges. Ich schaue mich um, ich bin allein, kein anderer Mensch auf dem Bahnsteig. Es ist dunkel außer ein paar vereinzelten Lichtern über mir. Die Kälte holt mich wieder ein. Ich fange zu zittern an, ein Schmerz, den ich vorher nicht kannte. Meine Zähne klappern, ich sehne mich nach der schwülen Hitze des Tropenwaldes und der heißen Sonne. Ich weiß nicht, wo ich bin oder was ich tun soll, wenn der nächste Zug nicht kommt. Werde ich hier erfrieren?
    Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, doch dann hält er vor mir. Zu meiner Erleichterung finde ich diesmal sogar den richtigen Waggon. Ich steige ein, sehe einen freien Platz und vermute, dass ich meinen Koffer in dem großen Fach an der Seite des Ganges abstellen muss, wo auch alle anderen stehen. Ich lasse mein Hab und Gut zurück in der Gewissheit, dass es gestohlen wird, weil ich von meinem Sitz aus kein Auge darauf haben kann. Doch das ist mir in diesem Moment völlig egal. Meine Beine sind so schwach, meine Füße schmerzen, ich bin müde und verzweifelt.
    Als ich endlich sitze, suche ich die Gurte, um mich anzuschnallen. Ich finde nichts und suche auf dem Sitz neben mir, aber auch dort ist nichts. Da bemerke ich, dass keiner der Fahrgäste einen Gurt trägt. Das scheint mir sehr unsicher und gefährlich, aber es muss wohl so sein. Dies hier ist ein fremdes Land … ein Land, dem ich nur auf dem Papier angehöre.
    Die Bewegung des Zuges wirkt beruhigend auf mich. Ich ziehe meine Schuhe aus und setze mich auf meine Füße, um sie zu wärmen. Die Jacke fest um mich geschlungen, schaue ich aus dem Fenster und betrachte den Mond, der hier so dunkel und klein wirkt, so ärmlich, als sei er am Ausblühen. Meine Augen füllen sich mit Tränen, die an meinen kalten Wangen herunterlaufen. Ich sehne mich nach dem Mond, den ich kenne, einem stolzen Mond voller Kraft und Leben, der mit so großer Helligkeit leuchtet, dass ich nachts meinen eigenen Schatten sehen kann. Ich lehne meinen Kopf zurück und schließe die Augen.
    Der Zug fährt immer schneller, meine Gedanken rasen mit ihm. Im Geiste verlasse ich diesen dunklen, kalten Ort. Ich fliege zurück in die Vergangenheit. Blaue, weiße und grüne Farben ziehen vor meinem inneren Auge vorüber. Ich fliege in die Wärme, die Sonne lacht, ihre Strahlen fliegen mit mir, fangen mich ein, tanzen um mich herum und umhüllen meinen Körper mit wohliger Glut. Ich sehe grüne Felder, bunte Städte voller Menschen, tiefe, dunkle Täler, durchschnitten von schmalen Flüssen, und gewaltige, dichte Wälder.
    Dann das große Meer, das sich in seiner Unendlichkeit bis zum Horizont erstreckt. Jetzt sehe ich meinen über alles geliebten Urwald vor mir: grüne, stolze Bäume, so weit das Auge reicht; ein wunderschön ausgebreiteter smaragdfarbener Teppich, sanft und doch mächtig, grün und doch voll von Farben jeder Art. Ein Anblick, der sich mir schon Hunderte Male bot, der mich aber jedes Mal wieder mit Bewunderung und Staunen erfüllt. Der mächtige Dschungel von Irian Jaya … mein Zuhause, das Verlorene Tal.

Das Verlorene Tal
    A ls Kind hatte ich immer davon geträumt, wie ein Vogel zu fliegen, der hoch über den Bäumen gleitet und sich mit dem Wind treiben lässt. Und dann, eines Tages, bin ich geflogen. Es war im Januar 1980, als wir uns auf eine Reise begaben, die mein Leben für immer verändern sollte.
     
    Unsere Familie lebte schon seit zirka einem Jahr auf einer kleinen Dschungelbasis in West-Papua, dem westlichen Teil der Insel Neuguinea. Die Hauptbasis befand sich zwar in der Hauptstadt Jayapura an der Küste, um aber in das Innere der Insel zu gelangen, waren lange und kostspielige Flüge erforderlich, und so schlossen sich mehrere Familien zusammen und bauten gemeinsam eine kleine Siedlung mitten im Dschungel, die sie Danau Bira nannten.
    Die Männer und Frauen der Gruppe waren Sprachforscher, Anthropologen, Piloten, Missionare und so weiter, die sich allesamt für Projekte im Dschungel rüsteten. Wir Kinder kümmerten uns nicht darum – für uns war Danau Bira schlicht und einfach das Paradies. Auf ungefähr drei Kilometern gerodeter Lichtung befanden sich etliche

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