DSR Bd 4 - Das Schattenlicht
den Häusern der Umgebung, überhaupt keine Lichter – mit Ausnahme des letzten Schimmerns von Tageslicht, das rasch im Westen erlosch.
Brendans Wegbeschreibungen waren fehlerlos gewesen; seine Schilderungen über das Reisen ins England des siebzehnten Jahrhunderts ließen jedoch eine Menge zu wünschen übrig. Andererseits wäre wahrscheinlich nichts, was er hätte Cass erzählen können, dem gerecht geworden, was sie erlebt hatte in den letzten … Wie lange war sie unterwegs? Einen Tag? Zwei? Es schien bereits so lange zu dauern wie ein ganzes Lebens.
Wo sollte man indes beginnen , fragte sie sich, um eine Welt zu beschreiben, die gleichzeitig so vertraut und dennoch so fremd war?
Vor ihr stand das imposante Backstein-Herrenhaus eines englischen Aristokraten mit Dachvorsprüngen in Giebelform und zahlreichen Kaminen, von denen jeder eine unterschiedliche Struktur und Bauweise besaß. Es hatte der Länge nach unterteilte Fenster mit winzigen, rautenförmigen Scheiben, die aus geblasenem Glas bestanden, und kunstvoll verzierte Eisengitter rund um die Grenze des gesamten Anwesens, auf denen es Platanen mit breiten Ästen gab, die einen finsteren gemusterten Hintergrund bildeten. Mitten auf der Straße hinter Cass führte ein Hirte mit einer Weidengerte vier Kühe hinunter; ein Mann stand an der Ecke, läutete mit einer Glocke und schrie etwas aus voller Lunge. Frauen in langen Röcken und mit Weidenkörben auf den Köpfen spazierten Hand in Hand; unbekümmert plauderten sie miteinander, während sie vorbeigingen.
Cass nahm die absolut traumähnliche Qualität dieser Szenerie auf, indem sie ihren müden Kopf lange und langsam schüttelte. Falls William Shakespeare auf der Türschwelle auftauchte, um sie zu grüßen, würde es sie nicht im Mindesten überraschen. Die Leute, die sie unterwegs getroffen hatte und die über die Straßen gingen, schienen mit Sicherheit direkt aus einem Shakespeare’schen Stück zu kommen. In ihrer Kleidung und ihren Gepflogenheiten wirkten die Menschen so, als würden sie sich in der Welt von Die lustigen Weiber von Windsor gut und gern zu Hause fühlen. Sie sprachen auch wie die Figuren von Shakespeare – was eine weitere Sache war, wovor Brendan sie mit ein wenig mehr Eindringlichkeit hätte warnen können: Die Sprache war beinahe nicht mehr zu verstehen, wenn man ihr nicht mit qualvoller Aufmerksamkeit folgte. Cass musste sich selbst durch die offensichtlichsten Äußerungen und einfachsten Wortwechsel mühen und beschränkte sie daher auf ein Mindestmaß. Es ist Englisch, Jim , dachte sie, aber nicht so, wie wir es kennen.
Dies hatte sie – zusätzlich zu all den anderen Erschütterungen und Schocks, die durch die Ankunft in der fremdartigen Londoner Welt der Sechzigerjahre des siebzehnten Jahrhunderts auf sie niedergefahren waren – so entkräftet, dass sie zu einem erschöpften Klümpchen geworden war. Sie wollte nichts mehr, als sich mit einem warmen Getränk zusammenzukauern, auszuruhen und neu zu organisieren. Unglücklicherweise würde eine solche Tröstung warten müssen. Gerade jetzt stand sie kurz vor ihrer bislang größten Herausforderung.
Nachdem sie durch das Tor getreten war, begab sie sich auf den kurvenreichen Weg zur Eingangstür. Dort angekommen, legte sie eine Pause ein, um ihre Gedanken zu sammeln. Sie holte tief Luft und legte ihre Hand an den großen Türklopfer aus Messing. »Wird schon schiefgehen«, murmelte sie und pochte dreimal kräftig gegen die Tür.
Sie wartete. Die Erschöpfung schien durch den Erdboden in ihr Blut nach oben zu sickern und schickte ein Durcheinander von Tagesereignissen hoch, die durch ihr Bewusstsein stürzten.
***
Der Tag hatte lange vor Sonnenaufgang mit einem Schnellkurs in Ley-Reisen begonnen, der von Brendan Hanno geleitet wurde – dem Chef-Zetetiker, wie sie ihn jetzt gerne in Gedanken nannte. Er war ihr Mentor und Führer in dieser schönen neuen Welt der interdimensionalen Erforschung, und sie waren sich mittlerweile so nahegekommen, dass sie sich duzten.
»Du wirst ein paar grundlegende Rahmenrichtlinien nicht vergessen wollen«, hatte er ihr erzählt, während sie eine einsame syrische Straße entlangrumpelten, die in die trockenen Hügel nördlich von Damaskus führten. »Je näher man dem Anfang einer Ley-Linie ist, desto enger scheint man in Verbindung mit ihrem Ursprungspunkt in der Zeit zu sein. Es ist gut, dies im Auge zu behalten, aber vertrau dem nicht dein Leben an – es gibt zu viele
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