Du bist nie allein
den Moment ein wenig hinausgezögert und war noch kurz zum Bäcker gelaufen –, war Andrea schon wieder mit einem neuen Kunden beschäftigt. Doch ihr Gesicht glühte noch von der Begegnung mit Richard. Es war das erste Mal, fiel Julie auf, dass sie Andrea im Umgang mit einem Mann nervös erlebt hatte. Andrea und Richard…? Nun, sie hätte mal jemanden mit einem festen Auskommen verdient, obwohl sich Julie kaum vorstellen konnte, dass Andrea es mit jemandem wie Richard lange aushielt. Julie hatte den Verdacht, sie würde der Sache recht schnell überdrüssig werden.
Kurz nach fünf war sie mit ihrer Arbeit fertig und machte sich ans Aufräumen. Andrea war schon eine halbe Stunde zuvor gegangen, und Mabel hatte im hinteren Teil der Räumlichkeiten zu tun. Während Julie den Tresen abwischte, fiel ihr die Sonnenbrille ins Auge. Sie lag gleich neben der Topfpflanze.
Julie sah sofort, dass es Richards Brille war, und kurz erwog sie, ihn anzurufen und ihm Bescheid zu sagen. Doch dann verwarf sie den Gedanken. Darum konnten sich Mabel oder Andrea kümmern. Das war viel besser.
Julie fuhr noch beim Supermarkt vorbei, um fürs Abendessen einzukaufen, und als sie durch ihre Haustür trat, hörte sie das Telefon klingeln. Sie stellte die Einkaufstüte auf dem Tisch ab und nahm den Hörer ab.
»Hallo?«
»Hallo, Julie«, sagte Richard. Es klang freundlich, unbekümmert, so als telefonierten sie jeden Tag. »Ich wusste nicht, ob du schon zu Hause bist, aber ich bin froh, dich zu erwischen. Schade, dass ich heute nicht mit dir plaudern konnte.«
Julie schloss die Augen. Nicht schon wieder, dachte sie. Es reicht langsam.
»Hi, Richard«, sagte sie kühl.
Bei ihrem Tonfall schien er zu stutzen. »Du fragst dich wahrscheinlich, warum ich anrufe.«
»Sehr richtig«, sagte sie.
»Nun, ich wollte nur fragen, ob du zufällig eine Sonnenbrille gefunden hast. Ich glaube, ich habe meine bei euch im Laden vergessen.«
»Ja, die ist da. Ich habe sie hinter den Tresen gelegt. Du kannst sie Montag abholen.«
»Samstags habt ihr nicht geöffnet?«
»Nein. Mabel findet, am Wochenende sollte man nicht arbeiten.«
»Oh.«
Er schwieg kurz. »Na ja, ich fahre nämlich weg, und es wäre toll, wenn ich sie vorher wiederbekäme. Können wir uns vielleicht ausnahmsweise heute Abend noch einmal am Salon treffen? Du hast doch sicher einen Schlüssel. Wird nur ein paar Minuten dauern. Sobald ich die Brille habe, muss ich los.«
Julie stand mit dem Hörer am Ohr da und sagte nichts. Das soll wohl ein Scherz sein, dachte sie. Die hast du doch mit Absicht liegen gelassen.
»Julie? Bist du noch da?«
Sie stieß die Luft aus, gut hörbar für ihn, aber das war ihr inzwischen gleichgültig. »Ich finde, es reicht jetzt, okay?«, sagte sie ohne eine Spur von Mitgefühl oder Freundlichkeit in der Stimme. »Langsam wird mir klar, was du im Schilde führst. Ich habe mich bemüht, nett zu dir zu sein, aber jetzt ist damit Schluss.«
»Was redest du da? Ich möchte bloß meine Sonnenbrille wiederhaben!«
»Richard, es ist mein Ernst. Ich bin jetzt mit jemand anderem zusammen. Zwischen uns ist es aus. Du kannst deine Brille am Montag abholen.«
»Julie… warte…«
Julie drückte auf den Knopf, um den Anruf zu beenden.
Kapitel 23
E ine Stunde später steckte Mike den Kopf durch Julies Haustür. »Hallo, ich bin da!«, rief er.
Julie föhnte sich gerade im Bad die Haare, und Singer kam, als er Mikes Stimme vernahm, angetrottet, um ihn zu begrüßen.
»Hast du was an?«, rief Mike. Er hörte, wie der Föhn abgeschaltet wurde.
»Ja«, antwortete Julie, »komm ruhig rein.«
Mike ging durchs Schlafzimmer und spähte ins Bad. »Du hast geduscht?«
»Ja. Ich kam mir irgendwie schmuddlig vor«, sagte sie. Sie wickelte das Kabel um den Föhn und räumte ihn in die Schublade. »Wenn so viel los ist wie heute, hab ich abends immer das Gefühl, von oben bis unten mit den Haaren anderer Leute voll zu sein. Bin gleich fertig.«
»Was dagegen, wenn ich hier bleibe?«
»Überhaupt nicht.«
Mike lehnte sich an die Kommode und sah zu, wie Julie zum Lidschatten griff und ihn mit einigen gekonnten Bewegungen um ihre Augen auftrug. Anschließend tuschte sie sich ebenso routiniert die Wimpern, erst oben, dann unten, den Kopf leicht zum Spiegel hin geneigt.
Wie sinnlich eine Frau beim Schminken wirkt, dachte Mike. Jede noch so kleine Veränderung, die sich vor seinen Augen vollzog, nahm er wahr. Zumal der Aufwand allein ihm galt, da sie an diesem Abend zu
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