Du bist ok, so wie du bist: Das Ende der Erziehung (German Edition)
Konfliktlösung müssten sie sehr früh schon eine intellektuelle Leistung erbringen, die oft auch uns Erwachsenen schwerfällt.
Wir denken und handeln so jedoch nur aus der absurden Befürchtung, dass aus einem aggressiven vierjährigen Jungen zwangsläufig ein gewalttätiger Jugendlicher wird. Die Kausalkette so zu knüpfen beruht auf einem Fehlschluss. Denn nicht das aggressive Verhalten in der Kindheit ist ursächlich für die spätere Gewalttätigkeit von Jugendlichen. Vielmehr, das zeigen zahlreiche Untersuchungen, haben gewalttätige Jugendliche fast ausnahmslos in ihren Familien psychische oder physische Gewalterfahrungen gemacht und waren häufig selbst Opfer.
Es gibt nicht nur eine Angst oder die Aggression. Gefühle treten in vielen Abstufungen und Färbungen auf. Unsere Gefühlswelt ist komplex, und jedes Gefühl hat verschiedene Facetten; es gilt, alle Emotionen im Laufe der Zeit kennenzulernen, Erfahrungen im Umgang mit ihnen zu sammeln und sie letztendlich sämtlich in uns zu integrieren. Dieser Prozess beansprucht rund sechzehn bis siebzehn Jahre – dauert also bis zur Pubertät – und gehört zur normalen seelisch-emotionalen Entwicklung von Kindern.
Linus macht also wesentliche Erfahrungen in seiner emotionalen Entwicklung. Doch anstatt sich die Kinder auch körperlich auseinandersetzen zu lassen, sie kindgerecht beim Umgang mit Konflikten zu unterstützen, sie in ihrer Entwicklung zu begleiten, wird das unerwünschte Verhalten weggedrückt, und das störende Kind soll die Gruppe verlassen.
Normalität kann ganz schön anstrengend sein
Linus ist kein Einzelfall. Immer wieder wird ein völlig entwicklungsgerechtes Verhalten nicht richtig eingeordnet, sodass Eltern in eine ähnliche Verunsicherungsspirale geraten wie die Mutter von Linus: Eltern wird suggeriert, ihr Kind verhalte sich auffällig, also nicht normal. Die Eltern erschrecken, vor allem, wenn sie unerfahren sind. Sie überlegen, wie sie das Verhalten ihres Kindes so beeinflussen können, dass es wieder als »normal« wahrgenommen wird.
Verunsicherung ist aber nichts Schlechtes, sie gehört sogar unbedingt zum Elternsein. Solche Empfindungen machen es überhaupt erst möglich, dass wir uns auf unsere Kinder einstellen, dass wir dynamisch und beweglich bleiben. Wenn jedoch nichts als Hilflosigkeit und das Gefühl, man habe versagt, beim Erwachsenen zurückbleibt, dann ist es nur zu verständlich, dass man vermeintlich hilfreichen Ratschlägen folgt: Wir Erwachsenen dürfen uns das Ruder nicht aus der Hand nehmen lassen! Wir müssen doch immer wissen, wo es langgeht! Schnell geht es dann zurück ins alte Muster: Strafe wird wieder ein probates Mittel im Umgang mit Kindern. Kindliche Handlungen und Verhaltensweisen, die nicht erwünscht sind, werden sanktioniert.
Und wenn sich Eltern nicht mehr selbst zu helfen wissen, nehmen sie heute ganz selbstverständlich psychiatrisch-ambulante Hilfe in Anspruch und überlassen den vermeintlichen Experten das Feld. Diese Kinder- und Jugendpsychiater, -psychologen und -ärzte hatten in den vergangenen Jahren viel zu tun.
Ist es nicht seltsam, dass laut einer Studie des Robert-Koch-Instituts mittlerweile jedes fünfte Kind in Deutschland als verhaltensauffällig gilt? Wieso stutzen wir nicht, wenn wir hören, dass die Zahl der ADHS-Diagnosen zwischen 1989 und 2001 um 400 Prozent gestiegen ist? Selbst dass immer wieder von Ärzten diskutiert wird, ob es sich hier nicht um eine »konstruierte Krankheit« handele, lässt kaum aufhorchen. Genauso wenig wie die immer wieder aufgeworfene Frage, ob von all den Diagnosen dieser »Krankheit« – die fast ausschließlich medikamentös, kaum therapeutisch behandelt wird – nicht vor allem die Pharmaindustrie profitiert.
Man könnte die Aufzählung solcher blinden Flecken lange fortführen: Macht es uns nicht skeptisch, dass Diagnosen häufig beliebig, nach Gutdünken des jeweiligen Arztes und aufgrund einer Handvoll oft recht unklarer Symptome, die Eltern aus ihrer Sicht von zu Hause und aus der Schule berichten, gefällt werden? Warum lässt es uns nicht aufmerken, dass ADHS besonders häufig bei extrem früh eingeschulten Kindern auftritt? »Aufmerksamkeitsdefizite« muss man hier wohl eher uns Erwachsenen attestieren. Schauten wir genauer hin, ergäben sich interessante Fragen. Zum Beispiel, ob die frühe Einschulung entwicklungspsychologisch überhaupt sinnvoll ist und ob wir hiermit nicht selbst unsere Kinder überfordern? Doch offenbar sind wir noch
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