Du findest mich am Ende der Welt
Untergang hatte mich erfaÃt,
ich wollte alles hören, bis zum bitteren Ende.
Inzwischen hatten sich die Mädchen von ihrem Lachanfall erholt. Die
eine, die das mit der Feuerwehr gesagt hatte, rià Lucille den Brief aus der
Hand. »Meine Güte, wie der schreibt!« quietschte sie. »So geschwollen! Du bist
das Meer, das mich überschwemmt, du bist die schönste Rose an meinem ⦠Busch ? ⦠Oh là là , was soll denn das bedeuten?!«
Die Mädchen kreischten auf, und ich wurde rot vor Scham.
Lucille nahm den Brief wieder an sich und faltete ihn zusammen.
Offenbar war der ganze Inhalt zum besten gegeben worden, und man hatte sich
ausreichend amüsiert. »Wer weiÃ, wo er das abgeschrieben hat«, meinte sie
gönnerhaft. »Unser kleiner Dichterfürst.«
Ich überlegte einen Moment, aus meinem Versteck hervorzutreten, um
mich auf sie zu stürzen, sie zu schütteln, sie anzuschreien und zur Rede zu
stellen, doch ein letzter Rest von Stolz hielt mich zurück.
»Und?« fragte nun die andere und setzte sich auf. »Was machst du
jetzt? Willst du denn mit ihm gehen?«
Lucille spielte angelegentlich mit ihren goldenen Feenhaaren, und
ich stand da, hielt den Atem an und wartete auf mein Todesurteil.
»Mit Jean-Luc?« sagte sie gedehnt. »Bist du verrückt? Was soll ich
denn mit dem?« Und als ob das noch nicht gereicht hätte, fügte sie hinzu: »Der
ist doch noch ein Kind! Ich möchte nicht wissen, wie der küÃt, igitt!« Sie
schüttelte sich.
Die Mädchen schrien vor Begeisterung.
Lucille lachte, ein wenig zu laut und zu schrill, dachte ich noch,
und dann fiel ich, ich stürzte, einem Ikarus gleich sank ich in die Tiefe.
Ich hatte die Sonne berühren wollen und war verbrannt. Mein Schmerz
war bodenlos.
Ohne einen Laut schlich ich mich fort, taumelte den Weg zurück,
betäubt von dem Duft der Mimosen und der Gemeinheit kleiner Mädchen.
Noch heute weckt der Geruch von Mimosen ungute Gefühle in mir, aber
in Paris begegnet man diesen zarten Pflanzen höchstens in den Blumenläden,
obwohl sie für die Vase nicht viel taugen.
Lucilles Worte hämmerten in meinen Ohren. Ich merkte nicht einmal,
daà mir die Tränen über die Wangen liefen. Ich ging schneller und schneller, am
Ende rannte ich.
Wie heiÃt es doch so schön? Irgendwann zerreiÃt es jedem das
Herz, und beim ersten Mal tut es besonders weh.
So endete die kleine Geschichte meiner ersten groÃen Liebe â
der silberne Ring landete noch am selben Tag im Meer vor Frankreichs Küste. Ich
schleuderte ihn mit der ganzen Wut und Hilflosigkeit meiner zutiefst verletzten
Seele in das hellblaue Wasser, das an diesem strahlend schönen Tag â ich weiÃ
es noch genau â die Farbe von Lucilles Augen hatte.
In dieser dunklen Stunde, die so schmerzhaft im Gegensatz stand
zu allem Heiteren um mich herum, schwor ich â und das ewige Meer war mein
Zeuge, vielleicht auch ein paar Fische, die unbeeindruckt den Worten eines zornigen
jungen Mannes lauschten â, ich schwor, nie wieder einen Liebesbrief zu
schreiben.
Wenige Tage später fuhren wir nach Ste Maxime zur Schwester
meiner Mutter und verbrachten dort unseren Sommerurlaub. Und als die Schule
anfing, saà ich wieder neben dem guten alten Etienne, meinem Schulfreund, der
gesund aus den Ferien zurückgekehrt war.
Lucille,
meine wunderschöne Verräterin, begrüÃte mich mit sonnengebräunter Haut und
einem schiefen Lächeln. Sie meinte, das mit den Ãles dâHyères hätte nicht
geklappt, leider, weil sie da schon etwas anderes vorgehabt hätte. Die Freundin
aus Paris, blablabla. Und dann sei ich ja schon weg gewesen. Sie sah mich
unschuldig an.
»PaÃt schon«, entgegnete ich knapp und zuckte die Achseln. »War eh
nur so eine Laune von mir.«
Dann drehte ich mich um und lieà sie mit ihren Freundinnen
stehen. Ich war erwachsen.
Ich habe nie jemandem von meinem Erlebnis erzählt, nicht einmal
meinen besorgten Eltern, die mich in den ersten schrecklichen Tagen danach nur
noch auf dem Bett liegend und mit offenen Augen gegen die Decke starrend
vorfanden und die abwechselnd versuchten, mich zu trösten, ohne mir mein
Geheimnis entreiÃen zu wollen, was ich ihnen bis heute hoch anrechne. »Das wird
schon wieder«, sagten sie. »Im Leben geht es immer mal rauf, mal runter, weiÃt
du?«
Irgendwann â so
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