Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
»Im Nachbarhause links« steht an der »Grenzplanke«, sieht in den Nachbargarten und entdeckt in seiner Phantasie ein Mädchen, die Kinderliebe seines Großvaters: Wie lebendig trat mir jetzt alles vor die Seele! Jener Efeu, der die Mauer des Gartenhäuschens überzog, war schon damals dort gewesen; an seinen Trieben war der kleine wilde Schwarzkopf auf und ab geklettert. In »Von Jenseit des Meeres« flüchten die Kinder Jenni und Alfred vom Dachboden eines mehrstöckigen Lagergebäudes über einen Birnbaum in den Hof zurück. In »Aquis Submersus« erklettert Kunstmaler Johannes, auf der Flucht vor bissigen Hunden, einen »Epheubaum«, gelangt so zum Fenster und ins Schlafzimmer seiner Liebsten, und in »Ein Fest auf Haderslevhuus« besteigt Junker Rolf eine Pappel, um ins Zimmer seiner geliebten Dagmar zu gelangen.
Ziemlich ausgeschlossen, dass der junge Storm ein Stubenhocker war.
Anders denkt darüber der zwanzig Jahre jüngere, in Kiel geborene Dichterkollege Wilhelm Jensen: Ich glaube, dass er, cum grano salis aufzufassen, das typisch Jugendliche niemals, weder in der äußeren Erscheinung, noch im Wesen besessen hat; ich kann ihn mir deutlich als einen schmächtigen, still in sich gekehrten Schulknaben vorstellen, unmöglich als einen »forschen«, übermütigen, geschweige denn tollen Studenten. Was er als eigenstes in sich trug und was ihn bewegte, kann sich niemals laut nach außen kundgegeben haben .
Als Wilhelm Jensen Theodor Storm 1867 kennen lernte, lagen schicksalsschwere Jahre hinter dem Husumer Dichter, das Exil in Potsdam und Heiligenstadt, vor allem aber der Tod seiner Ehefrau Constanze 1865. Ihr Verlust zeichnete Storms Persönlichkeit schwer für den Rest des Lebens. Kein Wunder, wenn Jensen, den Storm als Lyriker schätzte, nicht das »typisch Jugendliche« in dem von ihm verehrten Dichter fand.
Klippschulzeit
Der Knabe Storm sieht in Husum noch den Schinderknecht auf seinen brutalen Streifzügen durch die Gassen wandern . Der ist auf der Suche nach Hunden, die frei herumlaufen. In der Faust trägt er einen Knüppel, unterm Arm einen schmutzigen Sack mit verreckten Kötern . Man merkt Storm aus der Erinnerungsdistanz von über vierzig Jahren den Schauder und Ekel an.
Husum – rauhe und graue Stadt am Meer? Spätabends , wenn die Störche schlafen, ruft der Nachtwächter: Bewahr die Stadt, o Herr, Dir sei Lob, Preis und Ehr’. Störche und Storchennester prägen Husums Stadtbild noch nach Storms Tod. Den Storch lässt Storm auch als Figur des Adebar-Aberglaubens auftreten: Nicht allein, dass allezeit ein Storch auf dem Kirchturm steht, wenn ein Ratsherr sterben will… , sagt der Erzähler in einer Gespenstergeschichte der Novelle »Am Kamin«. Der Storch ist jedoch auch Segensbringer und bekannt und geliebt als Bote, der das neugeborene Kind durch den Schornstein wirft und der frischgebackenen Mutter in die Arme fliegen lässt: Wenn dir der Storch noch so ein Brüderchen brächte , sagt in »Viola Tricolor« die Alte zum Kind Nesi. Die Kleine ist nicht auf den Kopf gefallen und glaubt der Alten nicht. In der Novelle »Immensee« ist der Storch ein lustiger Geselle: Er fliegt vom Schornstein auf, kreist zunächst über dem Wasser und landet schließlich im Garten wie der Storch im Salat zwischen den Gemüsebeeten, wo er als hochbeiniger Ägypter umherstolziert. Storm selber lässt auch eine Portion Adebarglauben in seine eigenen Gedanken: Vor etwa acht Wochen hat der Storch uns wieder einbeschert, und zwar endlich eine Lisbeth , berichtet er dem verehrten Mörike im August 1855 aus Potsdam. Seiner Braut Constanze hatte der verliebte Verlobte zehn Jahre vorher von Husum nach Segeberg brieflich mit einem Gedicht zugewinkt:
Ins liebe Städtlein unversehrt
Sind nun die Störche heimgekehrt
Und bauen um des Schornsteins Rand
Ihr Nest hoch über allem Land.
Du weißt ja, welch besondres Heil
Durch solche Gäste wird zu Theil.
Was ist auf unserm künftgen Haus
Das Storchenpaar geblieben aus?
Erräthst du wohl den tiefen Sinn? – –
Ein Wittwer einsam wohnt darin;
Doch denk ich über Jahr und Tag
Giebt’s lustig Klappern auf dem Dach.
Zwei Tage später schrieb er seiner Constanze: Die Sonne scheint so warm in meine Stube; draußen klappern auf den Schornsteinen die Störche. Nirgendwo aber sind Storms Störche so populär geworden wie in dem Gedicht »Herbst«, das viele Menschen an die eigene Schulzeit erinnert, an den Deutschunterricht, an das Auswendiglernen und was es mit einem
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