Puppenfluch
1
November, das bedeutete eisiger Wind und Regen. Dunkle Wolkenfetzen jagten über den Himmel und verhießen noch schlechteres Wetter für diese Nacht. Laub wirbelte herum wie schwarze Schmetterlinge.
Siri wickelte ihren gestreiften Schal ein paarmal um den Hals und schob die Hände tief in die Jackentaschen. In der Ferne schlug die Kirchturmuhr. Eigentlich war es viel zu spät, um noch alleine unterwegs zu sein. Vor ein paar Wochen erst war unten am Kanal ein Mädchen überfallen worden.
Siri beschleunigte ihre Schritte. Ein paar kahle Zweige raschelten und für einen kurzen Augenblick bildete sie sich ein, dass ihr jemand folgte, doch als sie einen Blick über die Schulter warf, war niemand da. Warum hatte sie nicht wenigstens das Mofa genommen? Sie hatte befürchtet, Mama und Henrik könnten hören, wenn sie den Motor anließ, aber jetzt bereute sie ihre Entscheidung. Sie hätte es ja einfach nur ein Stück vom Haus weg schieben müssen, dann hätte niemand etwas bemerkt.
Es war verrückt, um diese Zeit noch draußen herumzulaufen, sie sollte einfach nach Hause gehen und ihre Pläne für heute sausen lassen. Sie ging weiter.
Siri bog in den Weg ab, der hinten am Flugplatz vorbeiführte. Sie wusste, dass der Wachdienst erst in gut drei Stunden die nächste Runde drehen würde. Sie kannte den Typen, der als Wachmann arbeitete, er war eigentlich ganz in Ordnung. Nur dem bösartigen Hund, den er bei der Arbeit immer dabeihatte, wollte sie keinesfalls begegnen. Aber das war auch gar nicht nötig, denn drei Stunden waren absolut ausreichend, um das zu bekommen, was sie wollte.
Siri stand vor dem verschlossenen Seitentor. Seit dem letzten Jahr hatte sie einen eigenen Schlüssel.
Ein Stück hinter dem Zaun war die Baracke, die sich der Flugverein mit der Firma Axelsson-Flüge teilte, die sich ihrerseits den Flugplatz mit dem Militär und dem Linienverkehr nach Stockholm und Kopenhagen teilte.
Der vertraute Duft von eingebranntem Kaffee, Öl und alten Möbeln schlug ihr entgegen, als sie durch die Tür des Vereinsheims trat. Alles war still und leer, genau, wie es um diese Zeit zu sein hatte. Vor ihr lag der gemütlich heruntergekommene Aufenthaltsraum und dahinter das Büro. Dort planten sie normalerweise Vereinsreisen und Weiterbildungen, Werbekampagnen und Anfängerkurse. Die Kaffeemaschine war immer eingeschaltet und der Kaffee schwarz wie Teer, aber das störte sie nicht. Hier hatte sie einige der besten Tage ihres bald sechzehnjährigen Lebensverbracht, und wenn sie nur über die Schwelle trat, überkam sie schon ein Glücksgefühl.
Siri liebte Flugzeuge. Gab es etwas Großartigeres, als wie ein Vogel durch die Luft zu fliegen? Wenn sie das Gefühl beschreiben sollte, fand sie nie die richtigen Worte, und die meisten ihrer Freunde langweilten sich schnell bei dem Thema. Linda war die Einzige, die sich für Siris Hobby interessierte. Sie waren schon ewig beste Freundinnen, aber vor drei Monaten war Linda als Austauschschülerin in die USA abgereist. Siri vermisste sie jeden Tag mehr.
Sobald Siri genug Geld zusammengespart hatte, wollte sie ihren Flugschein machen, doch das kostete rund achtzigtausend Kronen. Wie eine Mauer stand das fehlende Geld zwischen ihr und dem, was sie am allerliebsten tun wollte. Ferienjobs und Nebenjobs rechneten sich kaum und die Summe auf ihrem Konto wuchs viel zu langsam. Ständig war sie auf der Suche nach neuen Möglichkeiten, um Geld zu verdienen. Aber bis es so weit war, musste sie sich damit begnügen zu sparen. Und genau das hatte sie heute Abend vor.
Es war nicht das erste Mal, dass sie nachts hierher kam, aber sie fühlte sich immer noch schuldig. In ihren Augen war das, was sie tat, eigentlich nicht kriminell, doch sie wusste, dass die Männer vom Verein anders darüber dachten. Sie hatten deutlich erklärt, dass der Computer für derlei Dinge nicht zur Verfügungstand, aber Siri konnte dieses Verbot einfach nicht richtig ernst nehmen. Abgesehen davon war dieser Rechner hier um Klassen schneller als der, den sie zu Hause hatte.
Sie schlich ins Büro, einem kleinen Raum mit großem Schreibtisch, einem Aktenschrank und einer Bank, die unter dem Fenster stand und mit Papierbergen beladen war. Irgendjemand hatte einen Lichterbogen neben den alten fadenscheinigen Vorhang auf die Fensterbank gestellt, obwohl die Adventszeit noch gar nicht angefangen hatte.
Siri ließ sich auf den Schreibtischstuhl fallen und schaltete den Computer ein. Sie hatte ihre Programme unter anderem
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