Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
auch Selbsterfundenes, auch Nachrichten aus dem Wochenblatt, die sie auf ihre Weise ausschmückte.
Dass Lena Wies die Sage vom »gespenstischen Reiter« in ihrem Vorrat hatte, enthält mehr Dichtung als Wahrheit. Storms Erinnerung ist hier ungenau; verständlich, denn er schrieb das Gedenkblatt für Lena Wies erst 1870, zwei Jahre nach ihrem Tod, vierzig Jahre nach seinen Besuchen in der Langenharmstraße. Storm hat die Sage vom »gespenstischen Reiter«, der auf dem Weichseldeich in Ostpreußen reitet, erst 1838 kennen gelernt in der Zeitschrift »Lesefrüchte vom Felde der neuesten Literatur des In- und Auslandes«. Da Storm jedoch mit Lena Wies bis zu ihrem Tod in Verbindung blieb und er sie nach wie vor besuchte oder ihr wohl das eine oder andere Buch schickte, ist es denkbar, dass er davon erzählte, möglicherweise sogar den Zeitschriftentext überbrachte; denn der passte gut zu ihren anderen Geschichten und musste das neugierige Interesse dieser mündlich dichtenden Poetin treffen.
In ihren Geschichten schwebte er zwischen Schauder und Behagen, es war gemütlich und ungemütlich, am Ende der Geschichten waren viele offene Fragen, mehr Wachheit als Müdigkeit und eine Portion Angst vor Spuk und Gespenstern, die ihn verfolgten. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Diese Erlösung wie am Märchen-Ende gab es bei Lena Wies sicher nicht. Wenn um zehn Uhr abends die Zeit gekommen war, fiel dem Knaben der Abschied schwer, denn nun musste er hinein in die Dunkelheit und das Gruseln im Nacken spüren.
In den ersten Jahren holte Vaters Kutscher ihn ab; später, denn alles dies hat viele Jahre gedauert , ging er den Weg nach Hause allein. Glücklich, wenn Lena Wies ihn wenigstens bis ans Ende der bösen Plankenstrecke begleitete . Diese Abende haben Storm tief beeindruckt und nachhaltig beschäftigt. Er suchte und sammelte Sagen und Märchen aus Norddeutschland und sein atheistischer Glaube und seine Kirchengegnerschaft mögen von dieser starken Frau bekräftigt worden sein. Eine jener Krankheiten ergriff sie, die dem Menschen anhaften, wie ein fressendes Tier, schreibt Storm. Die seelsorgerischen Besuche des Pastors ließ sie an ihrem Sterbebett geschehen, doch bis an ihr Ende ließ sie sich nicht zum lieben Gott und zum christlichen Glauben bekehren. Dem Husumer Propst sagte sie als Sterbende ins Gesicht: Herr Propst! Se kriegen mi nich!
Die schönsten Geschichten seines Lebens will Storm allerdings in einer Tonne gehört haben. Mit einem Freund ging er da hinein, wenn ich aus den Privatstunden kam . Das Einstiegsloch musste mit einem Brett verschlossen werden, eine kleine Laterne brannte auf dem Schoß. Storm erwähnt in seinen Jugenderinnerungen »Geschichten aus der Tonne«, anders als bei Lena Wies, bekannte Märchen: »Schneewittchen« und »Frau Holle«, er spricht von Prinzen und Prinzessinnen. Hier in der Tonne, einem abgeschlossenen Raum im elterlichen Hause, Großmutter, Vater, Mutter, Geschwister und Angestellte in sicherem Abstand, war eine Gegenwelt mit Nestwärme, Beschirmung und Geborgenheit.
Sängers Abendlied
Vater Storm verbreitet eine nüchterne Atmosphäre von Arbeitsamkeit, Pünktlichkeit und Ordnung, ein Gegengewicht schafft die musische Begabung der Mutter. Sie singt gerne und horcht auf, wenn Sohn Theodor singt, dessen Stimme einen beachtlichen Tenor entwickelt. Alles riecht nach Freiheit, Freizügigkeit und Großzügigkeit. Ihm droht nicht, wie den meisten nach der Konfirmation, eine Arbeit suchen zu müssen, um Geld zu verdienen, ein ärmliches Leben zu führen und Frau und Kinder mühsam durchzubringen. Irgendwann wird sich Storm seiner privilegierten Lage bewusst werden.
Die Bewegungsfreiheit, die er außerhalb der familiären Verbote und Gebote hatte, kostete er aus. Sie hat in ihm Mut und Motivation gestiftet für Anliegen seines ureigensten Interesses. »Sängers Abendlied« könnte so ein Anliegen heißen. Dieses Gedicht ist höchstwahrscheinlich Storms erste Gedichtveröffentlichung. Sie erschien mit seinem Namenskürzel »St.« am 17. Juli 1834 im »Husumer Wochenblatt«. Sicher hat der junge Autor zufrieden und stolz auf die drei Strophen dieses Gedichtes geblickt und auf den Platz, der ihm vom Herausgeber und Drucker des »Wochenblatts« Heinrich August Meyler eingeräumt worden war. Vielleicht war Storms Schulkameradschaft mit Meylers Sohn für die Veröffentlichung hilfreich. Vielleicht halfen auch die bezahlten Anzeigen, die Storms Vater immer
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