Du oder der Rest der Welt
Carlos
Ich träume davon, ein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen zu führen. Aber ich bin Mexikaner, also wacht mi familia über alles, was ich tue, egal, was ich davon halte. Na ja, von Überwachung zu reden ist im Grunde viel zu harmlos, es ist eher so, als würde man in einer Diktatur leben.
Mi’amá hat mich nicht gefragt, ob ich Mexiko verlassen und nach Colorado zu meinem Bruder Alex ziehen möchte, um dort meinen Highschool-Abschluss zu machen. Sie hat die Entscheidung ganz allein getroffen, mich »zu meinem eigenen Besten« (ihre Worte, nicht meine) zurück nach Amerika zu schicken. Und als dann noch der Rest meiner familia sie darin bestärkt hat, war es beschlossene Sache.
Glauben die wirklich, dass sie damit verhindern können, dass ich sechs Fuß unter der Erde oder im Knast ende? Seit ich vor zwei Monaten in der Zuckerfabrik rausgeflogen bin, habe ich einen auf la vida loca gemacht. Und ich habe nicht vor, das zu ändern.
Ich gucke aus dem kleinen Fenster, während das Flugzeug über die schneebedeckten Spitzen der Rockies schwebt. Ich bin definitiv nicht mehr in Atencingo … aber genauso wenig in den Suburbs von Chicago, wo ich die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens verbracht habe, bis mi’amá uns gezwungen hat, unsere Sachen zu packen, um uns nach Mexiko zu verschleppen.
Als der Flieger landet, beobachte ich, wie die anderen Passagiere hektisch ihre Sachen zusammensuchen. Ich bleibe noch etwas sitzen und versuche, das alles auf die Reihe zu kriegen. Gleich werde ich meinen Bruder zum ersten Mal seit fast zwei Jahren wiedersehen. Verdammt, ich bin nicht mal sicher, ob ich ihn überhaupt sehen will.
Das Flugzeug ist beinah leer, also kann ich das Unvermeidliche nicht länger hinauszögern. Ich schnappe mir meinen Rucksack und folge den Schildern bis zur Gepäckausgabe. Als ich den Sicherheitsbereich verlasse, sehe ich meinen Bruder Alex, der hinter der Absperrung auf mich wartet. Ich habe gedacht, ich würde ihn vielleicht nicht erkennen oder das Gefühl haben, wir wären Fremde statt Familie. Aber mein großer Bruder ist eben mein großer Bruder. Sein Gesicht ist mir so vertraut, als wäre es mein eigenes. Einen kurzen Moment lang spüre ich Triumph darüber, dass ich inzwischen größer bin als er und nicht mehr der halbwüchsige, dünne Spargel, den er zurückgelassen hat.
» Ya estás en Colorado«, sagt er und zieht mich an sich.
Als er mich loslässt, fallen mir die verblassten Narben über seinen Augenbrauen und neben seinen Ohren auf, die noch nicht da waren, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Er sieht älter aus, aber der wachsame Blick, der zu ihm gehörte wie ein Schutzschild, ist verschwunden. Ich glaube, ich trage diesen Schutzschild nun.
» Gracias «, sage ich ausdruckslos. Er weiß, dass ich nicht hier sein will. Onkel Julio ist nicht von meiner Seite gewichen, bis er mich in den Flieger bugsiert hatte. Und er hat gedroht, am Flughafen zu bleiben, bis mein Hintern sich in die Lüfte erhoben hätte.
»Du hast hoffentlich nicht vergessen, wie man Englisch spricht, oder?«, fragt mein Bruder auf dem Weg zum Auto.
Ich rolle mit den Augen. »Wir leben erst seit zwei Jahren in Mexiko, Alex. Oder sollte ich sagen: Mamá , Luis und ich sind erst vor zwei Jahren nach Mexiko gezogen. Du hast uns sitzenlassen. «
»Ich hab euch nicht sitzenlassen. Ich gehe aufs College, um was Sinnvolles aus meinem Leben zu machen. Solltest du auch mal versuchen.«
»Nein, danke. Ich steh auf mein sinnloses Leben.«
Ich schultere meine Tasche und folge Alex nach draußen.
»Warum trägst du das da um deinen Hals?«, fragte mein Bruder mich.
»Das ist ein Rosenkranz«, erwidere ich und fingere an dem Kreuz, das an einer Kette aus schwarzen und weißen Perlen hängt. »Ich bin gläubig geworden, seit wir uns zuletzt gesehen haben.«
»Von wegen gläubig. Ich weiß genau, dass es ein Gangsymbol ist«, sagt er, als wir vor einem silbernen BMW-Sportcoupé stehen bleiben. Mein Bruder könnte sich so einen heißen Schlitten nie leisten; er muss ihn sich von seiner Freundin Brittany geliehen haben.
»Und wenn schon.« Alex war selbst in einer Gang, als wir noch in Chicago gelebt haben. Mi papá war ebenfalls ein Gangster. Ob es Alex passt oder nicht, ein böser Junge zu sein wurde mir in die Wiege gelegt. Ich habe versucht, ein normales Leben zu führen und mich an Regeln zu halten, und habe mich nie beschwert, obwohl ich für lumpige fünfzig pesos jeden Tag nach der Schule wie ein
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