Romana Exklusiv 0172
1. KAPITEL
Als der geliehene Koffer in ihrem Blickfeld erschien, hätte Harriet ihn am liebsten vom Laufband gehoben und wäre schnurstracks von Pisa zurück nach London-Heathrow geflogen. Doch dazu war es zu spät, denn in diesem Moment griff ein Mann nach dem Gepäckstück und vereitelte jegliche Fluchtpläne.
„Rosa“, sagte eine tiefe Männerstimme mit typisch italienischem Akzent.
Harriet wandte sich resigniert um und sah sich einem Mann gegenüber, den sie bisher nur von Fotos kannte. Diese waren ihm allerdings nicht gerecht geworden. Leonardo Fortinari, in einem lässig-eleganten Anzug, war größer, als sie gedacht hatte. Er hatte genauso dunkle Augen, ebenso dunkles Haar wie sie und sah sehr eindrucksvoll aus – älter und reifer als auf den Fotos, aber auch wesentlich interessanter.
„Ich fühle mich geehrt, Leo“, sagte sie und lächelte spöttisch, um ihre Unsicherheit zu überspielen. „Ich hatte nicht erwartet, dass mich jemand abholen würde, und wollte eigentlich den Zug nehmen.“ Und Leo Fortinari hatte sie am allerwenigsten erwartet.
Er zuckte lässig die Schultern. „Ich hatte sowieso in Pisa zu tun.“ Es interessierte ihn überhaupt nicht, dass er den anderen Fluggästen im Weg stand, die ihr Gepäck abholen wollten. Ungerührt musterte er sie. „Du bist wunderschön geworden, Rosa.“
Harriet, die den intensiven Blick wie eine brennende Berührung empfunden hatte, wurde es heiß in der teuren geborgten Kostümjacke, doch sie ließ sich nichts anmerken. „Danke. Wie geht es Nonna?“
„Sie freut sich natürlich sehr darauf, die verlorene Tochter endlich wieder in die Arme schließen zu können, und erwartet dich ungeduldig. Komm, ich bringe dich zur Villa Castiglione.“
Erst auf der Autobahn nahm Leo Fortinari das Gespräch wieder auf. „Ich hoffe, du hast dich inzwischen wieder gefangen, Rosa.“
Harriet sah ihn erschrocken an.
„Nach dem Verlust deiner Eltern, meine ich.“
Sie biss sich auf die Lippe und schwieg sicherheitshalber.
Leos Miene spiegelte Mitleid wider. „Es tut mir sehr Leid, dass ich nicht zur Beerdigung kommen konnte.“
„Dafür hast du mir ja geschrieben. Das war sehr freundlich.“ Der Stil war sehr gestelzt gewesen, als hätte Leo sich zwingen müssen, die Zeilen zu schreiben.
Die restliche Fahrt verlief in einträchtigem Schweigen. Leo Fortinari gab sich höflich, aber distanziert. Offensichtlich dachte er gar nicht daran, Rosa ihre Jugendsünden zu vergeben. Sehr gut! Unter den gegebenen Umständen war es am besten, diesen beunruhigenden Mann auf Distanz zu halten.
Harriet hätte nie gedacht, dass er sie selbst abholen würde. Insgeheim hatte sie damit gerechnet, seinen jüngeren Bruder Dante auf dem Flughafen zu sehen oder einen der Angestellten der Familie Fortinari. Vielleicht hatte es aber auch Vorteile, sofort mit dem großen Leonardo konfrontiert worden zu sein, denn sie war nun davon überzeugt, dass sie bereits eine der beiden schwierigsten Hürden genommen hatte. Nun stand ihr nur noch die Begegnung mit Nonna, Signora Vittoria Fortinari, bevor. Die war für den Abend vorgesehen. Die restliche Familie, zu der auch Rosas Cousin Dante und ihre Cousine Mirella gehörten, würde sie auf dem Familienfest am nächsten Tag sehen – falls sie bis dahin noch nicht enttarnt sein würde.
Harriet wurde immer nervöser, je näher die Feuerprobe rückte, die in der Begegnung mit Signora Fortinari bestand.
Die Fahrt führte durch eine hügelige Landschaft mit Weinbergen, Olivenhainen und Zypressen, vorbei an alten Bauernhöfen und prachtvollen Landsitzen, Kirchen und Glockentürmen. Doch Harriet hatte keinen Blick für die pittoreske Gegend. Ihre Gedanken kreisten einzig darum, wie sie das Wochenende heil überstehen sollte. Wie sehr hatte sie sich gewünscht, nach Italien zurückzukehren! Dass es dazu allerdings einer so absurden Eskapade bedurfte, wäre ihr nicht im Traum eingefallen. Doch ihr war nichts anderes übrig geblieben, als sich darauf einzulassen.
Harriet war froh, dass Leo Fortinari offensichtlich nicht beabsichtigte, sich mit seiner Beifahrerin zu unterhalten, die er für seine Cousine Rosa hielt. Sie machte es sich bequemer auf dem Sitz und rief sich den Augenblick ins Gedächtnis, als Rosa Mostyn im Chesterton Hotel beim Treffen der ehemaligen Schülerinnen von Roedale zielstrebig auf sie zugekommen war. Roedale war ein erstklassiges Mädcheninternat in den wunderschönen Cotswolds und lag nur wenige Kilometer außerhalb von
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