Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
zurückgeflogen. Sie wollte Ärztin werden. All das ist ausgeträumt.
Marwa sitzt verloren in ihrem armseligen Haus. Mit leeren, traurigen Augen. Die Schule hat sie aufgegeben. Der Weg dorthin ist zu gefährlich. Sie will auch nicht mehr als »Humpelstilzchen« gehänselt werden. In Deutschland hatten sie alle »Prinzessin« genannt. Aber sie ist keine Prinzessin mehr. Nur noch eine kleine, verzweifelte Irakerin, die an nichts mehr glaubt.
Das Glück macht um Marwas Familie weiter einen großen Bogen. Ihr kleiner Bruder Ahmad ist auf der Flucht vor amerikanischen Soldaten im Euphrat ertrunken. Ihre Mutter Faliha einst eine fröhliche, rundliche Frau, lacht kaum noch. Sie hat Diabetes und wiegt nur noch 40 Kilo. Sie wird bald sterben.
Zwei Stunden lang höre ich mir das Elend der Familie an. Die Hoffnungslosigkeit Marwas, die nie das Leben eines normalen jungen Mädchens führen wird, nie das Leben einer normalen Frau. Nur weil ein »wiedergeborener Christ« aus Texas seinen Namen in den Geschichtsbüchern dieser Welt verewigen wollte. Und weil Mord und Verstümmelung im Krieg angeblich nicht Mord und Verstümmelung sind, sondern eine Heldentat.
Gegen 18 Uhr geben uns Nachbarn ein Zeichen, aus Sicherheitsgründen rasch aufzubrechen. Ich lade Marwas Familie ein, mich am nächsten Tag im Hotel zu besuchen. Sie wird nicht kommen. Nach schweren Schießereien riegeln GI ’s Sabah Qusur ab.
Faliha informiert uns telefonisch, dass auch ich nicht mehr kommen solle. Man habe ihr gedroht, den nächsten Besuch würde ich nicht überleben. Man werde mich »liquidieren«. Man wolle keine Westler mehr in Sabah Qusur.
Dschamal
Am Abend bin ich in Sadr City bei Scheich Dschamal zu Gast. Der erst 29-Jährige ist Führer eines großen schiitischen Stammes. Sadr City ist wie Saba Qusur für Ausländer im Grunde nicht mehr betretbar. Selbst in gepanzerten Fahrzeugen wagen sich GI ’s nicht hierher. Doch ich habe in Bagdad Freunde, die mich überall hinschleusen.
Ich frage den jungen Scheich, ob es wenigstens den Schiiten nach der Befreiung von Saddam Hussein besser gehe. Zornig schüttelt er den Kopf. Selbst unter dem Sunniten Saddam habe es nie ein solches Chaos gegeben. Die sechseinhalb Jahre Krieg und Besatzung hätten mehr Iraker das Leben gekostet als die 35 harten Saddam-Jahre. Weit über eine Million Iraker seien getötet worden.
Es gebe weniger Arbeitsplätze, weniger medizinische Versorgung, weniger sauberes Wasser und weniger Elektrizität als vorher. Gerade einmal drei Stunden Strom habe Sadr City. Einkaufen sei nur unter Lebensgefahr möglich. Man könne jetzt zwar frei wählen, sich aber nicht mehr frei bewegen.
Diktatur sei schlimm. Aber Anarchie sei schlimmer. Der Krieg habe nur den Irakern genutzt, die auf den Gehaltslisten der USA stünden. Dschamal klingt bitter – und müde. Er hat durch den Krieg zwölf Familienmitglieder verloren.
Auf der nächtlichen Rückfahrt zum Hotel gibt es kaum noch zivilen Verkehr. Dafür tauchen im Zentrum jetzt häufig US -Militärfahrzeuge auf. Sie drängen uns an den Straßenrand. Dann richten sie ihre gleißenden Scheinwerfer und einmal auch den Laserstrahl eines Geschützes ins Wageninnere. Im Rückspiegel sehe ich den grünen Laserpunkt auf meiner Stirn. Ich lasse mich tief in den Sitz des Wagens gleiten. Ein Hubschrauber donnert wie eine Hornisse im Tiefflug über uns. Albtraum Bagdad.
Allein an diesem Tag gibt es in der Stadt 14 Anschläge mit zehn Toten und 43 Verletzten – die Zahl der Opfer amerikanischer Aktionen nicht mitgezählt. Die USA haben den Irak nicht befreit, sie haben ihn zerbrochen.
Manal, Marwa, Dschamal. Wenn ich im Irak bin, empfinde ich tiefe Scham. Wir sollten einfach ein paar Jahre lang nicht mehr von den großen Werten unserer Zivilisation, vom »westlichen Wertekanon« reden.
Zurück in meiner Hotelfestung, finde ich eine schriftliche Nachricht von Manal und Hayder. Sie bedanken sich für das Hochzeitskleid, das ich heimlich für sie gekauft hatte. Ich atme auf. Wenigstens eine gute Nachricht an diesem Tag.
Unsinnige Aktionen gegen unsinnige Kriege?
Mein Protest gegen diese Irrsinnskriege wurde von Jahr zu Jahr hilfloser. Diese Hilflosigkeit war oft nicht weit von Lächerlichkeit entfernt. Ich wusste das immer.
In Kabul hatte ich 2004 für Opfer sowjetischer Minen und des afghanischen Bürgerkriegs ein Waisenhaus bauen lassen. Als die Toiletten des Personals wegen der extremen Temperaturschwankungen verwitterten und zerfielen, hatte ich
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