Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
zu schießen?
Vor einigen der Panzer haben sich junge Ägypter häuslich niedergelassen. Sie verbringen Tag und Nacht hier, um die Panzer am Einsatz zu hindern. Um Essen und Trinken müssen sie sich nicht sorgen. Ständig kommen Freunde und Verwandte mit Tüten voller Kekse, mit Obst und Getränken.
Ich setze mich zu ihnen. Einer von ihnen hat sich eine ägyptische Fahne umgehängt. Ein anderer lässt gerade sein blutiges Pflaster auf der Stirn auswechseln. Ein Dritter schläft. Ich habe plötzlich den dringenden Wunsch, hier zu übernachten. Obwohl es kalt ist und ich nur eine dünne Jacke anhabe. Vor zwei Tagen saß ich noch in meiner beheizten Münchner Wohnung. Jetzt liege ich vor einem ägyptischen Panzer. Träume ich?
Neben uns sitzen Kinder auf dem Boden. Sie malen mit bunten Wasserfarben ein Revolutionsplakat. Mit Häusern, Blumen, Palmenhainen. Sie träumen von einem schöneren Morgen. Daneben hält ein älterer Mann ein Poster hoch. Auf Englisch steht dort: »Amerikaner, mischt euch nicht ein! Wir wollen Demokratie ohne euch.«
Aus dem bewölkten Himmel entlädt sich ein mächtig grollender Donnerschlag. Die Hunderttausende blicken lachend nach oben und antworten vielstimmig: »Allahu Akbar – Gott ist größer.«
Als es dunkel wird, verlasse ich mein Panzer-Lager. Mit Julia gehe ich durch die dicht gedrängte Menschenmenge zu einer der großen Leinwände. Dort werden wir in wenigen Minuten Mubarak sehen. Eine Gruppe fröhlich bemalter Kopten und Muslime stürzt sich auf uns und ruft: »Bitte helfen Sie mit, die Propaganda im Westen zu stoppen. Ägyptische Muslime und Christen gehören zusammen. Seit über 1000 Jahren. Glauben Sie nicht, was manche schreiben!«
Zehnjährige, zwölfjährige Jungen sind auf die Straßenlaternen geklettert. Stolz schwenken sie die ägyptische Fahne. Eine junge Frau kommt ganz nah auf mich zu und flüstert verzückt: »Die Freiheit so nah, so nah!« Alles ist rauschartig.
Als das Gesicht des Präsidenten auf der Leinwand erscheint, hallt ein Wutschrei über den Platz. Als wollten ihm die Menschen entgegenschreien: »Du hast unsere Brüder getötet, hau ab!« Doch sofort kommen noch lautere Rufe: »Ruhe, Ruhe! Wir wollen hören, was er sagt!« Mubarak redet und redet.
Neben mir steht ein kräftiger junger Mann, der vor einigen Tagen mit anderen aus dem Gefängnis ausgebrochen ist. Er zeigt mir die Spuren der Handschellen an seinen Handgelenken. »Wie langweilig der redet, wie langweilig«, mault er. »Er kommt nicht auf den Punkt! Sie werden sehen, er wird nicht gehen.« Tatsächlich verkündet Mubarak am Ende seiner langen Rede, aus Liebe zu seinem Volk habe er beschlossen, Präsident zu bleiben.
Die Menschenmassen schauen sich fassungslos an. Was hat Mubarak da gesagt? Mit hängenden Schultern stehen sie da. Nur ein paar hundert junge Leute stimmen zornige Sprechchöre an. Alle hatten mit seinem Rücktritt gerechnet. Soll das Kämpfen, das Sterben nun weitergehen? Hatten sie denn gegenüber dem gewaltigen Staatsapparat auf Dauer überhaupt eine Chance? Sie hatten gehofft, dem »Pharao« mit ihrem Todesmut Angst eingeflößt zu haben. Hatte der durchschaut, dass sie gar nicht so stark waren, wie sie taten? Viele ahnen an diesem Abend: Wenn Mubarak seine gesamte polizeiliche und militärische Macht einsetzt, wird es schwer.
Niedergeschlagen machen sich die Menschen auf den Heimweg. »Dann geht es halt noch ein paar Monate«, sagt ein Ägypter zu mir. »Wir halten durch.« Aber sehr optimistisch klingt er nicht. Inzwischen werden die Sprechchöre der Jugendlichen am Rande des Platzes wieder lauter. Als Zeichen der Verachtung halten sie ihre Schuhe hoch. Aber all das ist nichts im Vergleich zu der Stimmung, die vor der Rede herrschte. Für viele ist eine Welt zusammengebrochen.
Am nächsten Tag treffen sich trotzdem wieder Hunderttausende auf dem Platz. Nicht zur Demonstration, sondern zum Freitagsgebet. So viele, dass nicht alle gleichzeitig beten können. Also finden mehrere Gebete nacheinander statt. Einige Jugendliche sind auf Panzer geklettert und wenden sich in Gebetsrichtung. Als der Imam zum Gebet ruft, tun es die Soldaten ihnen gleich.
Ich sehe koptische Christen, die einen Kreis um die betenden Muslime bilden, um sie vor Störern zu schützen. Mit einem vieltausendfachen, lang gezogenen »Amen« endet die Lesung der Koranverse. Dann schließt sich ein Totengebet an. Der Wind streicht sanft über die Häupter der Betenden, als wollte er ihre Sorgen
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