Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
böse oder gehässig. Über Gaddafi sagt er, leider habe es am Schluss in Libyen nur noch einen Spiegel gegeben. Wenn das Volk hineingeblickt habe, habe es nicht sich, sondern Gaddafi gesehen. Selbst das Ausland habe im libyschen Spiegel nur Gaddafi erblickt. Er habe den Libyern ihr Gesicht gestohlen. Wenn er, Abdul Latif, geschäftlich ins Ausland gefahren sei, habe man ihm entgegengehalten, er sehe ja gar nicht aus wie Gaddafi. Die meisten Libyer hätten fast vergessen, wie sie wirklich aussähen.
Trotzdem ist Abdul Latif entschieden gegen eine Tötung Gaddafis. Er plädiert für 1000 Jahre Gefängnis. Zu dieser Strafe würde er auch Bin Laden verurteilen, der im September 2001 nicht nur Unschuldige getötet, sondern die USA auch in ihrer Würde getroffen habe.
Abdul Latif findet Al-Dschasira großartig. Als ich ihn frage, ob der Sender denn objektiv sei, lacht er: »Natürlich sind die nicht objektiv. Gott sei Dank!« Das denken offenbar auch andere Libyer. Überall sieht man Poster: »Al-Dschasira, Al-Arabiya, CNN , wir danken euch.« In der Not ist man offenbar jedem Helfer dankbar.
Abdul Latif ist kein Freund von Gewalt. Er wird blass vor Zorn, als ich ihn auf die Lynchmorde an angeblichen Gaddafi-Söldnern aus Schwarzafrika anspreche. »Das sind unsere Brüder«, sagt er. »Wir müssen sie schützen. Nach der Revolution müssen wir diese Misshandlungen Schwarzer aufklären. Wir dürfen die Menschen nicht so behandeln, wie Gaddafi das getan hat.«
Abdul Latif ist auf der Suche nach einer friedlichen Lösung für Libyen. Aber er weiß nicht, wie sich die Menschen gegen Gaddafis Flugzeuge und Panzer wehren sollen. Immer wieder fragt er, wie eine diplomatische Lösung aussehen könnte. Und warum man von Gaddafis europäischen Freunden jetzt niemanden in Bengasi und Tripolis sehe. Eine Flugverbotszone will er nicht. Sie werde den Libyern langfristig nicht helfen. Er liebe die Ferraris der Italiener und die Renaults der Franzosen, aber nicht ihre Bomben. »Kennt der Westen gegenüber seinen Feinden denn nichts anderes als Sanktionen und Krieg?«, fragt er. Aber noch hat er keine Lösung.
Es gibt keinen Wunsch, den Abdul Latif uns nicht umgehend erfüllt. Ich möchte den Führer der Rebellen, den »Vorsitzenden des Nationalen Übergangsrats«, Mustafa Abd Al-Dschalil, sprechen. Kurz darauf treffen wir ihn an einem geheimen Ort in der Rebellenstadt Al-Baida.
Abd Al-Dschalil ist ein kleiner, stiller Mann mit hoher Stirn. Er sieht überhaupt nicht aus, wie man sich einen Rebellenchef vorstellt. Eher wie ein Amtsrichter. Obwohl er bis vor wenigen Monaten Gaddafis Justizminister war, gilt er als integer. Er habe sich in wichtigen Fragen gegen Gaddafi gestellt, sagt Abdul Latif. Aber er habe auch enge Kontakte zu Katar. Abdul Latif ist sich nicht sicher, ob das für Libyen gut ist.
Abd Al-Dschalil setzt sich neben mich auf ein Sofa. »Vielen Dank für Ihr Kommen. Sie haben damit Menschlichkeit gezeigt«, sagt er freundlich. Er weist auf die Brutalität Gaddafis und auf die militärische Unterlegenheit der Rebellen hin. »Wir müssen die Militärbasen dieser ›Terroristen‹ zerstören«, sagt er. »Wir brauchen eine Flugverbotszone und eine Seeblockade.«
Dann schaut er mich an und fragt mich fast wie ein Lehrer: »Was sagen Sie dazu?« Als er sieht, dass ich von einem Eingreifen westlicher Flugzeuge gar nichts halte, verschließt sich sein Gesicht. Mein Argument, Völker müssten ihre Revolutionen selber machen, interessiert ihn nicht. Eine diplomatische Lösung hält er für unrealistisch. Das Gespräch wird kühler.
Abd Al-Dschalil fragt Abdul Latif dennoch, wie er uns weiterhelfen könne. Er werde alles tun, was in seinen Kräften stehe. »Wir haben keine Armee, wir brauchen die Hilfe des Westens«, sagt er zum Abschluss etwas mutlos.
In Bengasi hingegen ist die Stimmung euphorisch. Auf dem ebenfalls in »Tahrir-Platz« umbenannten ehemaligen Gerichtsplatz haben sich schon am Nachmittag Tausende begeisterte Libyer versammelt. Viele haben sich ihre neuen, rot-schwarz-grünen Nationalfarben ins Gesicht gemalt. Von allen Seiten rufen uns Menschen zu: »Danke fürs Kommen.« Dann skandieren sie weiter ihre Sprechchöre.
Auf mehreren Zelten, die den Platz säumen, sieht man Poster des libyschen Volkshelden Omar Mukhtar. Er hatte jahrelang gegen die italienische Besatzung gekämpft, die über 100000 Libyer in Wüsten-Konzentrationslager gepfercht hatte. Als die Italiener ihn 1931 gefangen nahmen, hängten sie ihn
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