Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
lindern.
Nachmittags muss der Tahrir-Platz seine bisher magische Anziehungskraft mit dem nur wenige hundert Meter entfernten Informationsministerium teilen. Es gilt als Sprachrohr Mubaraks. Tausende strömen dorthin. Der Platz vor dem Ministerium ist mit Stacheldraht abgesperrt. Dahinter stehen schwer bewaffnete Soldaten vor einer Wand von Panzern. Die Anti-Mubarak-Gesänge werden lauter. Junge Leute rufen den Soldaten zu, sie sollten ihre Kanonenrohre doch bitte nicht auf sie, sondern auf das »staatliche Zentrale der Lüge« richten. Die Soldaten verziehen keine Miene.
Ich versuche, mich zum Stacheldraht vorzuarbeiten, um mit einem der Soldaten zu sprechen. »Machen Sie das nicht«, warnen einige Demonstranten. »Die sind nervös.« Ich gehe trotzdem zum Stacheldraht vor. Ein Soldat kommt mit ausdruckslosem Gesicht auf mich zu. Obwohl niemand den Draht berühren möchte, drängt die Menge von hinten immer stärker. Der Soldat und ich stehen uns einige lange Augenblicke schweigend gegenüber. »Fragen Sie ihn nichts, die dürfen nicht reden«, flüstert mir ein Ägypter ins Ohr. Doch ich frage den jungen Soldaten: »Was macht ihr, wenn die jetzt den Stacheldraht einreißen und das Ministerium stürmen? Werdet ihr schießen?« Er lächelt – was er sicher auch nicht darf – und antwortet: »Das sind Landsleute. Wir werden nicht schießen.«
Wenige Minuten später höre ich in der Ferne Gewehrsalven. Und dann trillernde Jubelschreie junger Frauen. Es muss etwas geschehen sein. Ich frage die umstehenden Leute, was die Salven und das Trillern zu bedeuten haben. Die Antwort ist ernüchternd. Hier werde ständig geballert und geträllert. Doch ich spüre, dass etwas Außergewöhnliches passiert ist. Wir eilen zum Tahrir-Platz. Ich schaue in die Gesichter der Demonstranten. Aber ich erkenne keine Reaktion.
Doch auf einmal, erst zögernd, dann mit orkanartiger Wucht, braust ein Jubelschrei über den Platz. »Freiheit!«, brüllt der Orkan. »Hurriyah, Freiheit, Freiheit, Freiheit!« Mubarak ist zurückgetreten. Über Handys ist die Nachricht durchgesickert. Die Stimmung ist unbeschreiblich. Das ist kein Jubel wie beim Gewinn der Fußballweltmeisterschaft. Es ist, als hätte Ägypten alle Meisterschaften dieser Welt auf einmal gewonnen.
Im Fahnenmeer des Tahrir-Platzes geht jetzt alles drunter und drüber. Tausende rufen »Allahu Akbar«. Freudentränen und Freudentänze überall. Feuerwerkskörper werden in die Luft geschossen. Süßigkeiten werden verteilt. Kinder tanzen auf den Panzern. Endlich können sich Soldaten und Zivilisten in die Arme schließen.
Ein alter, stoppelbärtiger Ägypter drückt mir nasse Küsse auf die Wange. Zwei Männer nehmen mich auf die Schultern und lassen mich nicht mehr herab. Sie wollen ihren Stolz mit einem Fremden teilen. Erst nach fröhlichen Protesten darf ich wieder runter. Dafür drückt mir ein etwa 16-jähriger Junge, der seinen Schal verwegen um den Kopf geschlungen hat, eine weiße Taube in die Hand. »Welcome to the real Egypt!«, sagt er feierlich. So stehe ich mit einer weißen Friedenstaube zwischen Hunderttausenden jubelnden, tanzenden Menschen auf dem Tahrir-Platz.
Die Menschen sind im kollektiven Rausch. Ein 18-jähriges Mädchen in seiner schwarzen Abaya fragt mich, ob sie mir die Hand geben dürfe. Während ihre jüngere Freundin errötet und Julia den Kopf schüttelt, sagt sie zu mir: »Sie sind die große Liebe meines Lebens.« Sie der Frühling, ich der Winter. Dann läuft sie weg – aber nur ein paar Meter. Droge Revolution. Gustave Le Bon hat dieses Phänomen in seiner Psychologie der Revolutionen so treffend beschrieben.
Die Menge stimmt die Nationalhymne an. »Biladi, biladi, biladi, laki hubbi wa-fu’adi – Mein Land, mein Land, mein Land. Dir gehört meine Liebe und mein Herz.« Ich habe einen Kloß im Hals. Es geht also doch – auch ohne Gewalt. Die Aufständischen waren bereit gewesen, für die Freiheit zu sterben, aber nicht zu töten. Gandhis Geist hatte gesiegt, und ich durfte dabei sein.
Was wird die Zukunft bringen? Wissen die Revolutionäre etwas von den blutigen Nachwehen fast aller Revolutionen? Dass auf Monarchien und Diktaturen nur selten funktionierende parlamentarische Demokratien folgen, sondern oft Militärputsche und grauenvolle populistische Systeme? Dass Frankreich nach seiner Revolution 1789 über 80 Jahre brauchte, um eine stabile Demokratie zu werden? Über 70 Kurzzeit-Präsidenten, sechs Direktorien, zwei Konsulate, drei
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