Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
ein Generator. Ich bleibe an einem seiner Kabel hängen. Das Licht fällt aus. Es geht im Dunkeln weiter. Die Luft wird schlechter. Es wird noch wärmer, unheimlicher, furchteinflößender. Alles kann hier passieren. Der Stollen ist so lausig gebaut, dass man ständig befürchten muss, er könne in sich zusammenfallen.
Außerdem fängt einer der Jungs an, an Julia herumzugrapschen. Sie gibt Khaled ein Zeichen, und der explodiert. In seiner Anwesenheit eine Frau zu belästigen ist nicht nur gegenüber der Frau, sondern vor allem ihm gegenüber eine Beleidigung. Ganz Beschützer, schnappt sich Khaled den Jungen und droht ihm Prügel an. Die Situation in dem Maulwurftunnel ist explosiv. Die Nerven aller liegen blank: die Nerven Khaleds, der den Grapscher am liebsten erschlagen würde. Die Nerven der Schmugglerbande, weil Julia trotz Verbots filmt. Und die Nerven Julias, weil sie ständig an Raketen denkt, die einschlagen und uns lebend begraben könnten.
Mir aber tut der Rücken weh. Ich habe zunehmend den Eindruck, dass der verdammte Tunnel niemals endet, obwohl er angeblich nur knapp 300 Meter lang ist. Und diese ganze nervtötende Quälerei findet im Dunkeln statt, weil ich das Stromkabel abgerissen habe.
Doch irgendwann sehen wir Licht am Ende des Tunnels. Ein paar Meter noch – und wir sind in Gaza. Drei Jahre hat es gedauert, bis ich diesen Traum verwirklichen konnte. Nie hätte ich gedacht, dass ich dazu durch einen Ganoventunnel krabbeln müsste.
Auch auf der anderen Seite empfangen uns verschlagene Gaunergesichter. Wahrscheinlich wird man so, wenn man täglich um sein Leben fürchten muss. Der Tunnelausgang liegt in einer Grube und ist mit einer Zeltplane abgedeckt. Alles soll wie eine Baustelle aussehen.
Die Schmugglerbande will uns nicht gleich aus der Grube herauslassen. Erst müsse die Hamas zustimmen. Klugerweise hat Khaled vor unserem Abmarsch einen Freund in Gaza angerufen, der seinen Fahrer geschickt hat. Dieser verhandelt für uns mit zwei schwarz gekleideten Hamas-Polizisten. Sie geben unsere Daten an ihre Zentrale durch. Die aber lässt sich Zeit. Selbst hier im Hamas-Land geht nichts ohne Bürokratie. Nach 20 Minuten stimmt die Hamas gnädig zu, dass wir »ihr Land« betreten.
Gaza ist oft beschrieben worden. Als das am dichtesten besiedelte Land der Welt. Als größtes Freiluftgefängnis des Planeten. Als finsteres Terroristenland. Doch all das ist nur ein Teil der Wahrheit. Gaza ist überraschenderweise auch ein Land mit weiten landwirtschaftlichen Nutzflächen, mit einer über 40 Kilometer langen romantisch-malerischen Küste und vor allem mit fröhlichen, liebenswerten Menschen.
Die Eingeschlossenen von Gaza lassen sich durch nichts und niemanden ihre Herzlichkeit und Lebensfreude nehmen. Selbst die Sicherheitskräfte der Hamas, denen wir begegnen, sind freundlich und zuvorkommend. Alles ist anders, als wir es erwartet haben. Wie so oft.
An einer Kreisverkehrsstraße in Rafah warten wir auf Khaleds Freund Raschid. Nach der abgestandenen Luft im Tunnel genießen wir die frische Brise. Es gibt nur wenig Verkehr. Doch die Fahrer der wenigen Autos, Mopeds, Lastwagen, die uns sehen, verlangsamen alle die Fahrt, um uns zu grüßen. »Menschen von draußen, Gefängnisbesucher, toll!«, scheinen ihre Gesichter zu sagen. Am liebsten würden sie mit uns sprechen, aber sie trauen sich nicht.
Langsam bildet sich eine Traube von Kindern und Jugendlichen um mich. Und unversehens nehmen mich drei Jugendliche auf die Schultern und werfen mich freudig in die Luft. Julia filmt. Ich rufe: »Nicht schon wieder!« Doch ich spüre, dass mir diesmal Tränen in die Augen schießen. Wie tief muss man Menschen demütigen, dass sie einen Europäer, der sich einfach nur zu ihnen stellt, vor Freude hochleben lassen? Als ich endlich wieder unten bin, umarmt mich ein Junge und küsst mich auf die Wangen. Es muss salzig geschmeckt haben.
Ein Autofahrer hält an und fragt, ob er uns irgendwohin fahren kann. Wir nicken. Er chauffiert uns 50 Meter zu seinem Büro. Dessen Eingangstür führt zur Straße. Das Ganze wird schnell zum Café umfunktioniert. Männer bringen Plastikstühle und setzen sich dazu. Alle wollen diskutieren. Sie wollen wissen, wie es draußen ist, wo sie seit Jahren nicht mehr hin dürfen. »Deutschland ist wunderbar. Danke, dass Sie gekommen sind.«
Tagelang werden sie von diesem Besuch aus dem fernen Deutschland berichten. Von dieser jungen Frau und dem nicht mehr ganz so jungen grauhaarigen
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