Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
ständig daran. »Tempo, Tempo«, ruft unser keuchender Anführer immer wieder. Doch gebückt durch eine halb dunkle Sauna zu rennen ist anstrengend.
Die letzten Meter geht es bergauf. Dann stehen wir wieder in dem Hof, von dem aus wir vor ein paar Stunden gestartet sind. Die Jungs wollen uns jetzt schnell loswerden. Niemand soll uns sehen. Wahrscheinlich haben sie nicht alle anspruchsberechtigten Beamten bestechen können. Am Tor steht der rote Alt-Mercedes mit den abgedunkelten Scheiben. Wir steigen ein.
Ohne die Scheinwerfer einzuschalten, fährt uns sein seltsamer Besitzer zum Treffpunkt mit unserem Taxifahrer Hamid. Zügig steigen wir um. Mit durchdrehenden Reifen rast Hamid los. Er hat Angst. Erst als wir in Al-Arisch angekommen sind, fühlt er sich wieder sicher. Unter voll verschleierten Araberinnen und elegant bleichen Israelis ist ihm wohler zumute als unter Kleinhalunken in Jeans, T-Shirts und Tennisschuhen.
Die Rückfahrt nach Kairo gehört Hamid. Er hat unsere Geschichte längst zu seiner eigenen gemacht. Seine Freundin wird staunen, wenn sie hört, was er alles auf dem Sinai und in Gaza erlebt hat. Obwohl er in Gaza gar nicht dabei war.
Als wir vor Kairo im üblichen Massenstau stecken und Tausende Autofahrer gleichzeitig hupen, lässt er uns an seinen Machtfantasien teilhaben. Als ägyptischer Präsident würde er als Erstes drei Dauerhupern öffentlich die Daumen abhacken lassen. Als zweite Amtshandlung würde er drei unfähige Verkehrspolizisten standrechtlich erschießen lassen. Am nächsten Tag würden alle Ägypter »zivilisiert und verantwortungsvoll« fahren. So wie er. Hamid ist überzeugt, dass er das Chaos in Ägypten schnell beenden würde. Dann hupt er so laut, dass eine alte Dame vor ihm vor Schrecken fast in die Leitplanke fährt.
Wir lachen viel, um unseren Stress loszuwerden. Das beklemmende Gefühl, das wir im Tunnel hatten, steckt uns noch den Knochen. Der Gedanke an die Menschen in Gaza, an ihr riesiges Freiluftgefängnis, lässt uns nicht los.
Wie ist es möglich, dass das großartige Kulturvolk der Juden, das so lange in Ghettos leben musste, dieses menschenverachtende Ghetto Gaza hinnimmt? Das ihre Regierung mal mehr, mal weniger abschnürt? So wie es ihr gerade gefällt. Dass Israel sich zu einem Apartheid-Staat mit riesigen Mauern entwickelt hat? Was ist aus Theodor Herzls Traum von einem »Musterstaat« der Toleranz geworden? Der Vater des Staates Israel hatte einst geschrieben: »Und fügt es sich, dass Andersgläubige, Andersnationale unter uns wohnen, so werden wir ihnen einen ehrenvollen Schutz und Rechtsgleichheit gewähren.« Wo ist der ehrenvolle Schutz für Araber und Muslime?
Wie kommt es, dass sich die westlichen Regierungen, die ständig irgendwo im Mittleren Osten »humanitär« intervenieren wollen, so wenig für dieses zum Himmel schreiende Unrecht interessieren? Was für eine Absurdität, dass man einem Maulwurf gleich durch Tunnel kriechen muss, um ein paar Stunden mit den Menschen von Gaza verbringen zu können! In tausend Jahren wird man noch über die Schande von Gaza staunen. Und über die, die wieder einmal weggeschaut haben. Die immer wegschauen.
Der Jahrestag der ägyptischen Revolution
Januar 2012.
Julia hatte in Ägypten, Libyen und Syrien viel gefilmt. Zusammen mit Peter Puhlmann vom SWR in Stuttgart hatte sie daraus einen Dokumentarfilm von 30 Minuten Länge gemacht. Puhlmann wollte, dass ich den Film in Kairo, vor Ort, kommentierte. Ich hatte mich lange gewehrt. Ich wollte eine zu starke Personalisierung vermeiden. Neid hatte mir im Leben genug kaputtgemacht. Doch Peter Puhlmann verstand mehr vom Fernsehen als ich. Außerdem war er ein feiner Kerl. Nach langen philosophischen Diskussionen über den Neid und die Gesellschaft kam ich seiner Bitte nach.
Am 25. Januar 2012, dem ersten Jahrestag des Beginns der ägyptischen Revolution, flogen Julia und ich noch einmal nach Kairo. Es war schon 20 Uhr vorbei, als wir im Hotel ankamen. Julia gab schnell ihren Koffer ab und sprach kurz mit Puhlmann. Dann zogen wir zum Tahrir-Platz. Puhlmann wollte aktuelle Aufnahmen von diesem historischen Tag. »Der Platz war den ganzen Tag ruhig«, rief er uns noch nach. »Das habt ihr schnell hinter euch.«
Julia begann zu filmen. Doch bei gestellten Aufnahmen fühle ich mich unwohl. Julia versuchte vergeblich, mich zu dirigieren. Schließlich verlor sie die Lust. Also schlenderten wir einfach über den Platz, auf dem wir schon so häufig waren. Morgens,
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