Du sollst nicht töten: Mein Traum vom Frieden (German Edition)
zurückkam, berichtete, man habe ihn um 62000 ägyptische Pfund erleichtert. Das entsprach 8000 Euro. Der nördliche Sinai sei eine einzige Räuberhöhle.
Ich schaute Julia und Khaled an. Es war immer die gleiche Situation. Fahren oder nicht fahren? Die nächtliche Durchquerung des Sinai war nicht ungefährlich. So wie die Besuche von Tora Bora in Afghanistan, von Peschawar in Pakistan, von Ramadi im Irak, von Homs in Syrien oder von Bengasi in Libyen.
Hätte ich bei den Reisen meines Lebens normale Maßstäbe angelegt, hätte ich überhaupt nie in Krisengebiete fahren dürfen. Die entscheidende Frage war stets. Wo war der Punkt, an dem eine Weiterfahrt tatsächlich unverantwortlich wurde? Ich hatte diese Frage meistens, nicht immer, richtig entschieden. Vor allem mithilfe Ortskundiger. Deshalb fragte ich auch hier unseren Fahrer. Hamid war aus Kairo und wollte das gute Geld, das er mit uns verdiente, unter allen Umständen sicher nach Hause bringen. Als er »Fahren!« sagte, waren alle einverstanden. Es ging los.
Khaled bat die Grenzpolizisten noch inständig, die Sinai-Banditen nicht über unser Kommen zu informieren, um danach das Lösegeld mit ihnen zu teilen. Dann fuhren wir in die Nacht hinein. Im Dunkeln tauchte ein Kontrollposten auf. Doch er wollte uns nur auffordern, ab hier unter keinen Umständen mehr anzuhalten. Auch nicht bei Polizei- oder Militärkontrollen. Jetzt kämen nur noch Banditen.
Angespannt fahren wir durch die pechschwarze Nacht. Plötzlich sehen wir 100 Meter vor uns, mitten auf der Straße, Felsbrocken. Und dann zwei Panzer sowie mehrere bewaffnete Soldaten. Was tun? »Nie anhalten!«, hatte der Polizist gewarnt. Doch meine innere Stimme sagt: »Leg dich nicht mit Panzern an!« Es sind Sekunden, die über Leben und Tod entscheiden.
Hamid entscheidet sich für eine Vollbremsung. Gegen zwei Panzer haben wir keine Chance. Auch nicht, wenn Banditen drinsitzen. Es ist eine kluge Entscheidung. Es sind echte Soldaten. Wir werden gründlich durchsucht und dann durchgewinkt. Was wäre geschehen, wenn wir dem Rat des Polizisten gefolgt wären? Hamid schimpft ganz unislamisch vor sich hin.
Endlich sind wir in Al-Arisch, einer kleinen Touristenstadt. Die Anwesenheit zahlreicher Israelis zeigt uns, dass die Gefahr nun hinter uns liegt. Alle atmen auf. Obwohl die Grenze nicht mehr weit ist, übernachten wir hier. Für heute reicht es uns.
Am nächsten Morgen geht es weiter. Die Militärpräsenz wird dichter. Ein Kontrollposten folgt dem anderen. Überall stehen Panzer. Und plötzlich sehen wir in Rafah das Grenztor von Gaza. Dieses berühmte Tor zur Freiheit, das die ägyptische Regierung nach der Revolution angeblich geöffnet hatte.
Doch das große Gittertor ist zu. Meine Mitarbeiter in Deutschland hatten mehrfach mit der ägyptischen Botschaft in Berlin und mit dem deutschen Auswärtigen Amt telefoniert. Beide hatten ihnen bestätigt, dass wir zur Einreise nur unsere Pässe vorlegen müssten. Gaza sei frei. Doch der ägyptische Grenzbeamte winkt ab. Ich gebe ihm den Faxverkehr mit der ägyptischen Botschaft. Griesgrämig verschwindet er in seiner Grenzbaracke. Nach einer halben Stunde kommt er zurück. »Keine Einreise«, sagt er kurz.
Auch für die Einwohner von Gaza öffnet sich das Tor nur selten. Auf beiden Seiten der Grenze sitzen enttäuschte Ein- und Ausreisewillige auf ihren Koffern. Ich sehe Eselskarren mit dem gesamten Hausrat ärmlicher Familien. Doch auch sie müssen wieder umkehren. Nur wer eine außerordentliche Ein- oder Ausreisegenehmigung hat, gehört zu den Auserwählten, für die sich einmal pro Stunde das Tor kurz öffnet.
Dabei hatte die Mitteilung der ägyptischen Regierung, Gaza sei frei, so revolutionär, so positiv, so freiheitlich geklungen. »Was für ein großer Augenblick!«, hatten viele Menschen auf der Welt gedacht. Doch es waren wieder nur Worte. Unsere Enttäuschung ist riesengroß.
Wir setzen uns in ein kleines Straßencafé, von dem aus wir die Gitter des Grenztors immer im Blick haben. Am Nebentisch sitzt eine etwa 40-jährige blonde Deutsche. Seit 3 Uhr morgens wartet sie. Sie spricht perfekt Arabisch und will zu ihrer Familie in Gaza. Ein britischer Journalist, der extra aus London gekommen ist, wirft enttäuscht das Handtuch. Er fährt zurück. »Wieder so eine Propagandalüge«, sagt er wütend.
Ein junger Palästinenser schwedischer Nationalität setzt sich zu uns. Er ist gekommen, um seine in Gaza lebende Familie zu besuchen. Es ist sein vierter
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