Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
die Nägel schneiden, denkt sie, das letzte Mal ist schon sehr lange her. Besonders die Fußnägel, und jetzt zieht sie sogar den rechten Schuh aus und sieht nach, sind sehr lang, zum Teil splittern sie, da kann sie froh sein, keine Feinstrümpfe zu tragen. Dicke, selbst gestrickte Socken hat sie an. Früher hat sie oft Socken gestrickt, es war ihre Nachrichtenbeschäftigung gewesen, und auch bei den seltenen Fernsehabenden hatte sie manchmal, wenn keine Bügelwäsche anstand, zu den Nadeln gegriffen. Hatte sie nicht sogar für Maljutka …? Aber ja! Ein Paket Wollsocken hatte sie ihr geschickt, das musste noch vor der Renovierungsaktion gewesen sein, denn im Zuge der Vorbereitungen dafür hatte sie ihr Vorratsfach Männersocken leer geräumt, alle in Größe 43 gestrickt, für Vater, Schwiegervater, Freunde, dreizehn Paar waren es gewesen! Sie sieht sich beim Packen: eine große Hirschsalami, die Maljutka so mochte, vom Biohof in Krummensee, dazu ein Glas Traubengelee, das Maljutka wahrscheinlich so wenig mochte wie alles Süße, und – eine Diskette hatte sie ins Paket gepackt. Das war die richtige Angorakaninchendiskette gewesen, die mit dem roten Punkt. So viel Packband hatte sie verbraucht damals, dass ihr noch jetzt die Arme ganz schwer werden davon: Rastlos hatte sie Runde um Runde abgerollt, als wollte sie alles, alles was mit Maljutka zu tun hatte, so fest verpacken, dass es niemals mehr herauskommen konnte. Ganz schwindlig war ihr geworden davon, und als das Paket bei der Post abgegeben worden war, hatte sie vor der Tür erst einmal verschnaufen müssen, durchatmen, innehalten. Sie war dann zu Matthes’ Arbeit gefahren, etwas, was sie in den vergangenen zehn Jahren höchst selten getan hatte, und wenn, dann nur auf ausdrückliche Einladung oder Vereinbarung hin. Sehen wollen hatte sie ihn, wie er aussah, wenn er nicht mit ihr rechnete. Matthes war nicht da gewesen, sondern hatte sich bei irgendeiner Sitzung, einem anschließenden Hausbesuch herumgetrieben, sodass sie sich beinahe wehmütig der Zeiten erinnert hatte, da sie noch alle Morgen einander auseinandergesetzt hatten, was heute anlag, anstand. In den letzten Jahren, insbesondere, seit sie in der Arberstraße wohnten, war dieses Mitteilen allmählich weniger geworden, bis es ganz ausgelaufen war wie die Milch aus einem alternden Euter. Ja, sie war auf Wiederbelebung aus gewesen, hatte die Mattheskiste aus dem Dreck ziehen wollen und nicht gestört werden dabei von Maljutka, mit der alles so neu war, so lebendig, so wenig eingefahren, dass sie nur wehmütig daran denken konnte, wie hinreißend Matthes, wie berückend, betörend, köstlich, bestrickend, fesselnd sehr, sehr viel früher beinahe jede gemeinsame Stunde gewesen war, und je stärker sie darauf aus gewesen war, sich Matthes erneut ganz unbedingt und vollständig zu überlassen, nach ihrer Märznacht mit Maljutka, desto mehr hatte ihn der Zweifel gepackt, desto mehr war er ausgerückt vor ihr. So weit hatte er sich von ihr entfernt, dass er Mitte April, zwei Tage vor dem Weibertreffen im Charlottenburger Café, in sein Arbeitszimmer gezogen war und Frau Wierbels Schrank über den Balkon hinaufgewuchtet hatte. Jetzt, da es ihr einfällt, kommt auch das Weinen sie wieder an, das damals nicht hatte enden wollen und dazu geführt hatte, dass sie sich in ihrem Zimmer einschloss. Ob sie nun über den vermeintlichen Untergang der Mattheskiste im Sumpf der Zeit geheult hatte oder aber darüber, welche Distanz zu Maljutka bestand, obwohl sie doch nur fünfzig Kilometer entfernt von ihr lebte, ist ihr damals genauso wenig klar gewesen wie heute. Nach Charlottenburg war sie zwei Tage später gefahren mit festem Vorsatz, den sie heute nicht wiederholen könnte. Ja, sie hatte die Beziehung zu Maljutka aussetzen wollen, um die Matthesbeziehung womöglich wieder einsetzen zu lassen, das schon, aber sie hatte die richtigen Worte dafür nicht finden können, und dass ihr das damals schon passiert war, schafft nun sogar eine Insel der Beruhigung in ihrem aufgeregten Überlegen. Da flattert alles, was ein Gedanke hätte werden können, wie ein Schwarm Fledermäuse durch die Dämmerung, aber mittendrin steht sie, gewissermaßen stoisch, und staunt, dass ihr schon früher mitunter die Worte fehlten. Ihr, der die Worte nie ausgegangen waren. Die in Worten geschwommen war wie Matthes in Arbeit. So tröstlich ist das … Noch nie zuvor hatte sie sich in einem solchen Zustand der … inneren Auflösung? befunden,
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