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Karneval der Alligatoren

Karneval der Alligatoren

Titel: Karneval der Alligatoren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James G. Ballard
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    Bald schon würde es unerträglich heiß
sein. Kurz nach acht betrachtete Kerans vom Hotelbalkon aus den Sonnenaufgang –
hinter den dichten Dschungeln riesiger Urwaldpflanzen, die sich östlich der
Lagune weithin über die Dächer der verlassenen Häuser drängten, kam eben die
leuchtende Scheibe empor; selbst die fast undurchdringliche olivgrüne
Blätterfront konnte ihre grausame Hitze kaum mäßigen. Die scharfen Strahlen
trommelten ihm auf den nackten Oberkörper, auf Brust und Schultern brach der
erste Schweiß aus. Er setzte eine dunkle Brille auf, um wenigstens die Augen
einigermaßen zu schützen; die Sonnenscheibe war nicht mehr klar umschrieben,
elliptisch dehnte sie sich nach Osten, ein gigantischer Feuerball. Ihre
Strahlen verwandelten die eben noch bleierne Oberfläche der Lagune in einen
Kupferschild. Mittags, in weniger als vier Stunden, würde man meinen, das
Wasser stünde in Brand.
    Meist wachte Kerans um fünf Uhr auf
und kam gerade noch rechtzeitig zur biologischen Station, um wenigstens vier
bis fünf Stunden arbeiten zu können, ehe die Hitze zu unerträglich wurde; heute
konnte er sich jedoch nicht entschließen, die klimatisierten Hotelräume zu
verlassen. Einige Stunden hatte er schon allein beim Frühstück verbracht, dann
sechs Seiten in seinem Tagebuch vollgeschrieben und sich dabei absichtlich Zeit
gelassen, bis Colonel Riggs mit seinem Patrouillenboot am Hotel vorbei kam;
denn danach war es garantiert zu spät, noch zur Station zu fahren, und der
Colonel freute sich immer auf eine Plauderstunde, besonders bei ein paar Runden
Aperitif; vor halb zwölf fuhr er kaum je weiter.
    Aus irgendeinem Grund war Riggs
jedoch heute spät dran. Vermutlich drehte er weitere Kreise als sonst in den
angrenzenden Lagunen, oder er wartete bereits bei der Teststation auf ihn.
Einen Augenblick lang überlegte Kerans, ob er versuchen sollte, ihn über das
Funkgerät zu erreichen, aber der Kasten war unter einem Berg von Büchern
begraben, und die Batterie war leer. Aber Riggs verstand Kerans unbewußten
Versuch, seine Verbindung zur Hauptstation zu unterbrechen – die absichtlich
wild aufgetürmten Bücher, hinter denen das Gerät versteckt war, widersprachen
allzusehr Kerans peinlicher Ordnungsliebe –, und tolerierte sein Bedürfnis,
sich zu isolieren.
    Kerans lehnte sich über das Geländer
– zehn Stockwerke weiter unten reflektierte das Brackwasser seine schmalen,
eckigen Schultern und sein hageres Profil. Er blickte auf: Einer der zahllosen
Thermalstürme fegte durch eine Gruppe riesenlanger Wedel, die das Rinnsal
zwischen Lagune und Meer umstanden. Die zwischen den Häusern und den
angeschwemmten Sandbergen eingesperrte Luft erhitzte sich unheimlich schnell, explodierte
nach oben wie aus Ballons entweichendes Gas und hinterließ unten ein plötzlich
detonierendes Vakuum. Einige Sekunden lang hingen zerfetzte Dampfwolken über
dem Rinnsal, ein bösartiger Miniaturtornado peitschte über die zwanzig Meter
hohen Pflanzen und zerbrach sie wie Streichhölzer. So schnell wie er gekommen
war, verschwand der Sturm wieder, und träge wie Alligatoren stürzten die
säulenhaften Urwaldriesen im Wasser übereinander.
    Kerans sagte sich, daß es nur
vernünftig sei, im Hotel zu bleiben – je höher die Temperatur kletterte, um so
häufiger brachen diese Stürme los –, im Grunde war er aber nur dageblieben,
weil er wußte, daß nicht mehr viel zu tun war. Die biologischen Aufzeichnungen
waren zu einem sinnlosen Spiel geworden, die neue Flora entwickelte sich nach
genau den Linien, die man schon vor zwanzig Jahren vorausgesagt hatte, und er
war überzeugt, daß in Camp Byrd auf Nordgrönland sich niemand die Mühe machte,
seine Berichte abzulegen, geschweige denn sie zu lesen.
    Um dies zu prüfen, hatte Dr. Bodkin,
Kerans Stationsassistent, einen angeblichen Augenzeugenbericht zusammengebraut,
demzufolge ein Sergeant des Colonel Riggs eine große Eidechse mit segelförmigem
Kamm und riesiger Rückenflosse eine der Lagunen hatte überqueren sehen – die
genauso aussah wie der Pelycosaurus , ein pennsylvanisches Reptil der
Frühzeit. Hätte man den Bericht ernstgenommen, so wäre auf diese Ankündigung
der Rückkehr des Zeitalters der großen Reptilien sofort eine Armee von
Forschern über die Station hergefallen, gemeinsam mit einer Atomeinheit, und
mit dem Auftrag, unbeirrt im Zwanzig-Knoten-Tempo weiter nach Süden
vorzustoßen. Außer der Routinemeldung, daß die Nachricht gut eingetroffen

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