Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Parteigruppenorganisator und stets um Abwiegelung jedes aufrührerischen Potenzials bemüht. Sie stand also eines Tages in der Küchenverschlagstür, als er mit seinen Patienten ins potenzielle Wohnzimmer kam und sagte, dass sie gezwungen sei, das Gespräch mit anzuhören. Ob sie unter diesen Umständen überhaupt gewillt seien, die Sprechstunde wahrzunehmen? Er gab sich drucksend und bleich und wusste nicht, was er tun sollte. Hätte ihr Verhalten anzeigen müssen, hatte aber Angst vor dem Unfrieden mit den Kollegen. Sie einigten sich schließlich darauf, mit der im Nachbarhaus residierenden Chefin eine Variante des kollektiven Wegschauens zu praktizieren. Alle wussten, dass einer von ihnen die Wohnung nun lieber verließ, als sich in die besagte Küche zu quetschen. Das ging so hin. Einen Monat um den nächsten rundete sich der Bauch.
Helene legt eine Liste an, was sich an damals üblicher Schwangerenbekleidung in ihrem Schrank fand: ein türkisfarbener, langer Kleiderrock aus Baumwolle, ihr liebstes Stück. Eine schwarze und eine sogenannte Pfeffer-und-Salz-Hose, beide mit großen Elastikeinsätzen am Bauch, für die es Schwangerenblusen brauchte. Davon hatte sie drei: eine aus glänzendem, synthetischem Material, mit Streublümchen bedruckt, deren einziger Vorteil war, dass man sie waschen, aufhängen und anziehen konnte. Sie trocknete rasant und war bügelfrei. Zum Zweiten eine rosafarbene Bluse mit grauer Stickerei am Kragen. Genauso hässlich. Die einzige, die sie gern trug, war aus gepunktetem schwarzem Cord. Hieß er Kindercord? Wahrscheinlich. Leider war sie nicht lang genug, sodass sie die Hosen mit Hosenträgern trug, damit die Elastikeinsätze nicht hervorblitzten. Sie freut sich, denn an diese Kleidungsstücke hatte sie nicht mehr gedacht, seit sie sie weitergegeben hatte. Das war kurz nach Mareiles Geburt gewesen, sie meinte, die sogenannte Familienplanung abgeschlossen zu haben. Ein weiteres Kind hatte sie keinesfalls geplant, vier reichten. Und jetzt kann sie doch tatsächlich olle Klamottenkamellen hervorkramen aus dem Gedächtniskoffer!
Aber da überfällt sie eine andere Erinnerung.
Warum war sie schwanger geworden?
Aus Trotz.
Ja, sie erinnert sich: Vor Mareile hatten Matthes und sie nur Lissy, dazu Helenes Söhne. In Matthes’ erster Ehe hatte es zwei Kinder gegeben. Mindestens zwei wollte sie auch mit Matthes haben, wollte gleich schwer wiegen wie seine erste Frau. Matthes nannte Billy hin und wieder Mischa, wie seinen Zweiten, und dichtete ihm auch dessen Eigenschaften an, was nicht schwer war: Billy war eine Schönheit, wie Mischa auch. Billy war aber nicht sein Sohn. Seltsamer Schmerz peinigte sie, wenn er Billy mit Mischa verglich. Also lud sie Matthes in ein Lokal, eine Weinstube am Haussee, und betrank sich. Trunken mutig, kam sie mit dem Wunsch nach einem vierten Kind heraus. Warum, ließ sie im Dunkeln. Matthes lachte. Merkte der Lage offenbar den Ernst nicht an. Als er’s tat, erbleichte er und sagte mit herber Ruhe, dass er dann seiner ersten Frau auch noch ein Kind machen müsse, sonst würde das Ungleichgewicht der Kinderzahl zu groß. Mit solchem Nachdruck hatte er gesprochen, dass sie glaubte, nie wieder ein Wort an ihn richten zu können. Sie lief hinaus und begann zu schreien. Dann folgte das, was man einen Filmriss nennt, denn wie sie nach Hause gekommen war, weiß sie bis heute nicht. Mit sofortiger Wirkung setzte sie die Pille ab. Matthes tat, als sei nichts geschehen. Irgendwann tat sie auch so. Nach neun Wochen war sie schwanger.
Mareile ist vierzehn und eine Sprachreisende.
Main kyaa káruun …
Neuerlich hebt sich ein Streifen Plane vom Bild: Sie hat Hindi gelernt! Die letzten Wochen vor dem Platzen des Aneurysmas verbrachte sie abends, in Decken eingerollt, auf dem Balkon. Es war lange genug hell. Das Hindi-Lehrbuch war die Kopie einer englischen Ausgabe gewesen. Die anderen Schüler des Kurses konnten durch die Bank besser Englisch als sie. Auch ihr Englisch hatte sie also auf Vordermann bringen wollen. Hatte sie deshalb in den ersten Tagen nach der Narkose versucht, Englisch zu sprechen? Und überhaupt: Niemand wird den Kurs abgesagt, den Leuten Bescheid gegeben haben, dass sie nicht mehr kommen kann. Matthes wusste zwar, dass sie zum Hindikurs ging, aber wohin, bei wem, war ihm unbekannt. Unruhig wirft sich Helene im Bett hin und her. Das muss doch geregelt werden! Als die Schwester kommt, sie fragend anschaut ob der Unruhe, kapituliert sie augenblicklich vor dem
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