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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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die schlafende Sprache ist nicht mehr auffindbar, das Herz rast, sie hat das Gefühl, dass der Clip in ihrem Kopf zu tackern beginnt, und als sie die Hand vor den Kopf schlägt, eigentlich wollte sie beide Hände vor den Kopf schlagen, bemerkt sie die Speichelfäden, die links, mittig und rechts aus dem Mund hängen. Sie haften an der Hand, die sie gar nicht mehr trocken kriegt. Nun heult sie richtig los, und Matthes schiebt sie, wie sie es will, ganz ans Ende des Ganges.
Des Ganges?
In Kalkutta wäre ihr das nicht passiert.
Warum eigentlich nicht? Weil Indiens Gurus sie mit ihren mageren, langfingrigen Händen beschirmt und beschützt hätten? Sie schwitzt ja jetzt wie an jedem Tag, den sie in Indien unterwegs war! Dass sie eben an Kalkutta dachte, während sie ans Ende des Ganges geschoben werden wollte, sorgt dafür, dass sie Tränen lacht. Oder unter Tränen lacht? Sprache im Inneren funktioniert irgendwie besser. Es scheint, als ob noch vor der Übersetzung ins gesprochene Wort der Bauplan der Rede einstürzte und sie unmöglich macht. So, dass sie gar keinen Plan mehr davon hat, wovon die Rede hätte sein müssen. Sobald sich auch nur eine kleine Aufregung einmischt, fällt das Wortkartenhaus zusammen. Und während sie also unter Tränen Tränen lacht, sieht sie sich im Ramakrishna-Tempel in Belur Math. Gehockt, befällt sie ein Anflug Glaubens im Unglauben: Wird er sie womöglich erretten? Sie wieder gehend machen? Gar schreibend? Die Augen hält sie geschlossen, damit sie nicht sehen muss, was um sie herum geschieht. Die Ohren kann sie noch immer so gut wie vorher auf Durchgang stellen. Es ist schön, was sie auf einmal fühlt: Einsamkeit, Stille. Sie ist versunken. Nicht im Glauben, aber in Erinnerungen, und eine Art Dankbarkeit breitet sich aus, dass sie schnell noch in Indien war, ehe das Aneurysma platzte. In ihrem jetzigen Zustand würde sie niemand fragen, ob sie nicht für sechs Wochen dorthin fliegen und sich im Lande umsehen, hier und da aus ihren Büchern lesen und Kultur tanken wolle. Aber, fällt ihr ein, als sie am Flughafen von Varanasi auf den Fahrer wartete, sah sie, wie Rollstuhlfahrer aus dem Flieger gehievt wurden. Es waren Israelis, die sich in Indiens heiligste Stadt aufgemacht hatten. Beschwerlich, dachte sie damals, und bewunderte sie.
Nun ist sie eine von ihnen.

Helene spürt eine Hand auf der Stirn. Es ist die von Matthes, sie merkt es, noch ehe sie die Augen geöffnet hat. Matthes sieht nicht zornig aus. Er war sehr oft zornig in den letzten beiden Jahren. Ihr Anblick allein reichte schon aus, ihn in Rage zu versetzen. Aber stimmt das überhaupt? Leise, wie eben geschlüpfte Schlangen, züngelt Unsicherheit. Was gerade wie eine Erinnerung anmutete, kommt ihr in diesem Moment wie ein jäher, plötzlicher und eigentlich unmotivierter Verdacht vor. Hat die Gegenwart sie als Geisel genommen, um die Vergangenheit freizupressen? Aber wer sollte damit zu erpressen sein … Ihr will niemand einfallen. Die Unsicherheit leckt die Haut der Unterarme, die Härchen stellen sich auf. Sie fröstelt. Nun reicht Matthes’ Anblick, sie in Rage zu versetzen: wie verständnisvoll er auf sie schaut, wie allwissend! Ganz Vater, der sein kleines, unbeholfenes Kind begütigend und mit ebenjenem Hauch Spott auf den Lippen besänftigen will, der das Fass zum Überlaufen bringt. Das Kind windet sich, tritt, schlägt um sich. Der Vater lächelt und hält es fest.
Sie kann nicht ausdrücken, was sie denkt.
Es ist furchtbar, aber sie ist es, die sich windet. Die schlägt.

Gefühlschaos ist ihr neu. So neu wie übereinander herfallende Gedanken, deren Anfänge und Enden sie jeweils gar nicht bemerkt: Sie sind auf einmal da und schon wieder weg. Wenn sie sich zwingen will, einen von ihnen zu verfolgen, endet das unweigerlich in Tränen, denn sie schafft es nicht. Schlimm ist, dass sie das nicht auszudrücken vermag. Es gäbe aber auch keinen Empfänger für eine solche Mitteilung. Ob das noch schlimmer ist?
Helene ist froh, dass Doktor Allwissend wieder nach Hause gegangen ist. Auf seinem Gesicht hat sie heute nichts als Verständnis ausgemacht und fühlt sich furchtbar gefoppt. Nichts weiß er! Nichts hat er verstanden! Was gibt es aber überhaupt zu verstehen? Sie versucht, sich einen Reim auf ihre Wut zu machen. Getobt hat sie. Weil sie sich nicht mehr verstellen konnte, nicht mehr verstecken wie früher, sondern weil alle Neugier offen zu lesen war in ihrem Gesicht. Ertappt fühlte sie sich, aller Vorsicht

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