Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
beraubt. Nein, schon die Möglichkeit, vorsichtig zu sein, fehlte. Furchtbares Gefühl, dämlich (und vor allem offen) lächelnd anderen ausgeliefert zu sein. Jetzt erst glaubt sie zu bemerken, dass sie tatsächlich über Gebühr lächelt: Die kleinste Freude zieht sofort den Mund breit, sie merkt es inzwischen daran, dass Speichel läuft. Und die Freude hört damit so leicht nicht auf. Sie ist ein Breitmaulfrosch. Sucht das Gesicht im Spiegel der Waschnische auf. Nein, Glupschaugen sind ihr noch nicht gewachsen. Die Finger sind nicht trommelschlegelförmig verändert, ebenso wenig die Zehen. Ein bisschen grün sieht sie aber aus. Siehst du, Helene: grün vor Wut. Sie lächelt, und da überkommt es sie auch schon wieder, das rauschbrausende Wüten. Hilflosigkeit, die im Kopf ihre trostlosen Runden dreht, immer schneller und schneller, und als sie zu schluchzen beginnt, fängt die dicke Bandner unflätig an zu lachen. Ein Glück, dass es die gibt. Ihr Lachen macht, dass Helene sich fängt. Nicht mit der langen Leine, aber mit der kurzen. Sie fährt hinüber zum Bett und lacht heulend mit. Gut, wenn der Schmerz nachlässt, denkt sie. Dass er aber immer noch in ihr hockt, nur notdürftig zugedeckt ist, weiß sie wohl.
Doktor Allwissend sagt nichts. Jedenfalls nicht zur Situation. Helene glaubt zu wissen, dass sie in Trennung lebten, aber wenn sie versucht, sich an die letzten Wochen zu erinnern, scheitert sie einigermaßen jämmerlich. Vielleicht hatten sie beschlossen, die Trennung rückgängig zu machen … Vielleicht hatten sie eine kleine glückliche Zeit gehabt, ehe das Aneurysma platzte … Das würde Matthes’ Gesicht erklären, als er mit ihr schlief. Beseligt hatte er ausgesehen. Die Augen schwollen ihm im Zustand der Leidenschaft immer beinahe zu, und wenn er sie mühsam öffnete, um sie anzuschauen, war seine Iris oben und unten gekappt. Das erinnerte dann an einen schlafenden Löwen, der mal eben das Lid lüpfte, weil sich eine Fliege auf seine Nase gesetzt hatte. Träge sah das aus und zufrieden, dabei bebte er vor Erregung. Sie hatte gelernt, sich in dieser Gegensätzlichkeit zurechtzufinden, wenn sie auch anfangs irritiert war dadurch. Andererseits kam es aber niemals vor, dass er hinter fiebrigem Blick mit großer Ruhe aufwartete. Einem aufgeregten Auge entsprach eine aufgeregte Verfasstheit.
Der Märchendoktor Allwissend weiß eigentlich nichts. In seiner Unbeholfenheit sagt er aber immer das Richtige. Matthes weiß eigentlich viel. In seiner Art von Unbeholfenheit ist davon manchmal nichts zu merken.
III
LEKTIONEN
HELENE LÄUFT DIE JAHRE AB. ÜBT ERINNERN.
Was spontan kommt, nimmt sie als selbstverständlich aus dem dunklen Fass, in dem es moderte. Wenn es dann vor ihr steht und leuchtet, in der Farbe der Jacke zum Beispiel, die sie vor fünfundzwanzig Jahren trug, ist sie’s zufrieden. Natürlich zieht sich der Mund breit. Immer. Renja Mittelner fragt öfter, woran Helene gerade gedacht habe. Wahrscheinlich freut sich Renja, dass sie lächelt. Helene freut sich nicht.
Wenn sie aber Erinnern übt, ist sie gespannt. Verspannt? Ja, auch das.
Heute hat sie sich das Jahr 1988 vorgenommen. Sie war schwanger, im Juni kam Mareile zur Welt. Das größte Ostberliner Neubaugebiet hatte eine Poliklinik, deren Angestellte sie seit Ende 1987 war. Solche Filialen wie die örtliche Kinderneuropsychiatrie oder der Jugend-Gesundheitsschutz waren aus dem Hauptgebäude ausgelagert worden, sodass Helene mit ihren Kollegen ein Stück entfernt davon, in ganz normalen Neubauwohnungen, arbeitete. Am Anfang hatte sie noch kein eigenes Zimmer. Zu viert mussten sie sich die drei Räume der Wohnung teilen. Im größten, das ein Wohnzimmer gewesen wäre, war ein Viertel abgeteilt worden für eine fensterlose Küche. Dort lagerten vorübergehend Akten. Sie konnten sich auch Tee oder Kaffee kochen. Ein Tisch stand darin. Der unglückliche Vierte, der gerade aus Zimmermangel keinen kleinen Patienten bestellt hatte, zog sich in diese Küche zurück. Das führte dazu, dass durch die Durchreiche, eine etwa einen halben Quadratmeter große Wandöffnung mit Glasscheiben, das Gespräch zwischen dem Kollegen und seinem Patienten mit anzuhören war. Hatte sie sich, wenn sie die unglückliche Vierte war, anfangs noch bemüht, besonders ruhig zu sein, damit der Patient ihre Anwesenheit möglichst nicht bemerkte, legte sie bald entschiedenen Widerspruch ein gegen die unhaltbare Situation. Der einzige Mann der Vierergruppe war
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