Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
langen Anlauf, den sie nehmen müsste, die Kopflosigkeit zu erklären. Zwar weiß sie vorab immer, was sie sagen will, wenn es aber daran geht, es wirklich auszusprechen, nehmen sich Motorik und Kopfchaos nicht viel: Sie lassen es nicht zu. Hinzu kommt, dass die Schwester auch nicht gerade so aussieht, als ob sie Zeit hätte. Zeit für langwierige Erklärungen über Hindikurse, die an ihrem Interesse vorbeischlittern. Main kyaa káruun – was soll ich bloß machen … Das war ein Lieblingsspruch der Lehrerin gewesen, deren linker Arm klein und verkümmert unter der Dupatta zum Salwar Kameez verborgen blieb. Wenn sie einen Sari trug, dann hatte sie die Überwurffalten so drapiert, dass der Arm verschwand. Geschickt hatte sie das gemacht, dass es ihr die ersten drei, vier Mal gar nicht aufgefallen war. Etwas anderes als dieser Spruch will Helene aber nicht einfallen. Nur das »hai« am Satzende, das »ist«, das den Regeln unserer Syntax so wenig entspricht, dass wörtliche Übersetzungen oft zum Lachen sind. Aber ein Beispiel kommt ihr nicht in den Sinn, und die Buchstaben, die sie bis zum Tage null so oft und wirklich hingebungsvoll gemalt hat, sind durch den Rost gefallen. Schade. Ohnehin könnte sie so etwas jetzt nicht mehr schreiben. Mit links gelingt ihr ja das Deutsche kaum, ist krakelig, mit Spitzen und überschießenden Schlenkern. Die fremde Hindi-Schrift kann sie vergessen, das wird nichts mehr.
Mutlos geht’s ins Kissen zurück.
Langsam regt sich der Lauersinn. Hat sich noch nie geregt. Als Helene ein Kind war, hatte die Urgroßmutter ein Kissen auf dem Küchenfensterbrett dazu benutzt, sich in Positur zu bringen und auf das die Straße hinauf- und hinabkriechende Volk zu lauern. Autos fuhren selten, man hörte, was die Leute im Vorbeigehen redeten. In die Pausen zwischen den gehörten Sätzen stopfte die Urgroßmutter sehr energisch eigene. Am Gerüchteküchenfenster entstanden so feine Gespinste, die ins Nebenhaus waberten, von dort wiederum hineingepresste Sätze mitnahmen und schließlich über der Kleinstadt hingen als dichtes Gewölk. Manchmal genügte es, hineinzustechen mit einer einfachen Tatsache, und sie lösten sich sehr schnell auf. Blauer Himmel. Hatte man aber keine einfache Tatsache zur Hand, sondern zum Beispiel die Unruhe eines Verdachtes, so konnten sie tage- und sogar wochenlang dort hängenbleiben. Besonders, wenn man sich klärenden Kontakt versagte und stattdessen hinter vorgehaltenem Verdacht in seinen vier oder acht Wänden verharrte. Helene hasste den vorgehaltenen Verdacht ebenso wie den Lauersinn und war hinter einfachen Tatsachen her wie der Teufel hinter der Seele. Jetzt ist sie gewissermaßen gezwungen, zwischen diesen Wänden zu verharren, und der Lauersinn beginnt sich zu regen. Sie möchte schon rechtzeitig wissen, wer heute Dienst tut und wer von wem besucht wird. Wer was isst und wer auf dem Klo raucht. Wer miteinander spricht und wer nicht. Helene lässt die Tür einen Spalt offen, wenn sie ins Zimmer rollt. Das erweist sich als nicht erfolgsträchtig, denn viel zu oft kommt jemand ins Zimmer und schließt sie wieder. Also beginnt sie, die Zeit draußen im Krankenhausflur zu verbringen. Gegenüber vom Nachbarzimmer befindet sich eine schöne, tiefe Fensternische. Die Nische ist schöner als der Ausblick auf den ehemaligen Kohlenhof. Sie stellt den Rollstuhl zur Hälfte hinter den schweren altrosa Samtvorhang. Mal hinter den linken, mal hinter den rechten. So ist sie zumindest von einer Seite aus erst zu sehen, wenn man die Nische fast erreicht hat. Ein Buch hat sie im Schoß liegen, aber sie liest nicht. Das hat sie während der letzten Tage schon versucht, kann es auch. Jedenfalls kann sie ganze Seiten, zwar unter Stocken und Stolpern, vorzugsweise bei Zischlauten, aber unter hervorragender Betonung herunterlesen, doch weiß sie hinterher nicht, wovon die Rede gewesen war. Gestern hatte sie sich einzelne Sätze vorgenommen – mit dem gleichen Ergebnis. Am Punkt angelangt, weiß sie nicht mehr, wie der Satz begonnen hatte.
Mein Gott , das merkt doch keiner …
… denkt sie, bestürzt von der Vorstellung, sie müsste aus eigenen Büchern vorlesen und danach Fragen zum Gelesenen beantworten. Die Leute begreifen doch beileibe nicht, dass sie das nicht kann! Die Atempausen stellt sie sich vor und das Blickdunkel. So peinlich ist ihr die Sache, dass sie sich die Spuckefäden vom Mund wischen muss, die sich vor lauter Aufregung wieder einmal abgeseilt haben.
Es ist gut.
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