Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
Vom Netzwerk:
kommt erst morgen zurück. Die Bandner schläft, die Ausgetrocknete wurde von ihrer Familie abgeholt. Nein, nicht Mücken. Die Ruhe ist wie Gelee, schmatzend, über Helene hingekrochen. Sie hätte jetzt Mühe, den Arm zu heben oder das Bein. Seltsam, dass Stille sich derart materialisieren kann. Nicht einmal die Lider möchte Helene heben, so schwer wiegt das Zeug. Sie weiß, dass sie es mit einem entschiedenen Ruck ihres ganzen Körpers zerreißen könnte, aber sie will nicht. Liegt still unter dem Gelee und versucht zu denken. Sie hat schon gemerkt, dass das Erinnern gut geht, wenn sie ein Seil auswirft. Es verhakelt sich dort, wo es dunkel ist, und sie kann sich daran vorwärtsziehen. Heute hat sie sich Matthes’ Untreue vorgenommen.
Untreue?
Ausnahmezustand.
Das Wort kommt schneller, als ihr lieb ist, denn was es mit sich bringt, rumort sofort in den Eingeweiden: Sie konnte kaum essen damals, kotzte alles sofort wieder heraus, und das bisschen, was sie drinbehielt, suchte dünnflüssig den Hinterausgang.
Vor sechzehn Jahren hatte Matthes nach einem – aus ihrer Sicht: schönen – gemeinsamen Abend die Plane vom Hängeboden geholt, mit der er bei ihr eingezogen war. Seine ganze Habe war darin verschnürt gewesen. An jenem – aus seiner Sicht: gequälten – Abend vor sechzehn Jahren hatte er ihr gesagt, dass er nun, nach dem letzten Scrabble-Spiel, von ihr fortginge. Er könnte dazu nichts sagen, alles Weitere würde schriftlich folgen. Sprach’s, packte sein Zeug in die Plane, lud sie aufs Fahrrad und war fort. Sie hatte es zunächst für eine seiner sprichwörtlichen Überraschungen genommen, die ihm nach wie vor gelangen. Zwar hatte sie, während er packte, gezittert, aber nicht gewusst, ob aus Angst oder in gespannter Erwartung. Hatte dann lange noch im Bett wach gelegen und überlegt, ob sie die Szene geträumt oder wirklich soeben erlebt hatte. Auch am Morgen, als sie nach dem Aufwachen auf die andere Bettseite langte, war er nicht da gewesen. Sie hatte die Kinder geweckt und war dabei langsam in einen Zustand der Bewusstlosigkeit hinübergeglitten, der die Kinder schweigen machte und den Abläufen des durchschnittlichen Morgens einen somnambulen Selbstlauf verlieh. Sie war auch nicht zu sich gekommen, als die Kinder in der Schule und Kindergarten verschwunden waren und sie die Jüngste mit ihrer Mittelohrentzündung der Kinderärztin vorgestellt hatte. Jeden Augenblick hatte sie Matthes zurückerwartet und jedem Augenblick eine solche Last damit aufgebürdet, dass er im bewussten Zustand gar nicht zu ertragen gewesen wäre. Am nächsten Tag hatte die Post einen Brief von Matthes gebracht, in dem er sich für die schöne gemeinsame Zeit bedankt hatte. Wie ein Nachruf war Helene das vorgekommen, sie hatte bedauert, nicht schon längst tot zu sein. Dann hatte sie plötzlich so laut geschrien, dass Lissy aus ihrem Zimmer getaumelt kam und die Nachbarin Sturm klingelte. Lissy hatte ihr geöffnet. Von da ab hatte sie zu kotzen begonnen, wenn ihr der Geruch von Essbarem auch nur in die Nase gekommen war. Ihre Freundin Heidrun war die Auserwählte, die nun mit Matthes schlafen und seine spontanen Lehn-dich-doch-an-Angebote annehmen durfte. Helene hatte sie unter neben über auf ihm liegen und mit ihm ficken schnäbeln frotzeln turteln sehen in Gedanken, sie hatte es nicht fassen können, sie hatte den heiteren Himmel von vorgestern nach Vorboten der Düsternis wieder und wieder abgesucht, sie hatte Schmalz ausgelassen. In allem fand sich weder ein Groll gegen ihn noch gegen sie, nur: Sie war versehrt . Der Sinn des Wortes war ihr am Ende der Brieflektüre schlagartig klar geworden, als sie den höllischen Schmerz gespürt hatte, der pulsschlagend auf sie eindrosch. Bill hatte nach der Rückkehr aus der Schule die Schwiegermutter angerufen, die mit harscher Wut auf ihren Sohn am selben Tag noch angerückt war und das Heft in die Hand genommen hatte. ( Nägel mit Köpfen. Butter bei die Fisch. Der hat sie doch nicht alle. Den werden wir uns aber zur Brust nehmen. Drücken werden wir den, bis ihm die Augen rauskommen, und dann, weil sie rauskommen. So waren ihre Sprüche planlos aus dem Mund in die Räume der Neubauwohnung übergetreten.) Helene wagt nicht, sich auszumalen, was passiert wäre, wenn die Schwiegermutter nicht das Heft in die Hand genommen hätte. Aber jetzt, wo die Gedanken daran mit einem Rumpeln in den Eingeweiden daherkommen, ist es auch nicht mehr angebracht, sich das auszumalen. Jetzt ist es

Weitere Kostenlose Bücher