Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Verfliegen der Schmerzen auch postwendend ein. Sie können nicht fühlen , daß ich eine Frau bin. Die Sänger hören meine Stimme und sind immer aufs Neue irritiert, auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen wollen. Als Mann haben sie mich seinerzeit akzeptiert, aber das war doch nicht ich, der ihnen da gegenüberstand! Und jetzt, da ich ich bin – bin ich ich? –, bin ich in ihrem Fühlen eben nicht ich, wobei ich in ihrem Denken wahrscheinlich an die richtige Stelle gerückt werde, und das geht nicht zusammen. Auch Dein Gefühl kriegte mich innen und außen wie in Sinn und Form oder Gehalt und Gestalt nicht zusammen, und da ich Dich besser kennenlernte, als ich damals ahnte, weiß ich, daß Du nichts anderes tatest, als Deinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, und mir nicht etwa ein Bein stelltest, um zu beobachten, wie ich nach dem Fall aussehen würde. Als mir der Schmerz in den Rücken schoß, war es, als wollte man mir von oben zurufen, daß Frauen eben nur dann Bretter annageln sollten, wenn wirklich kein Mann greifbar ist. Eine Dirigentin in Rock oder Kleid überm feinbestrumpften Männerbein, mit männlicher Stimme und breiten Schultern, ist nichts für das gängige Rollenverständnis, von dem sich ja doch niemand lösen kann, so frei er sich auch wähnt. Und weil das so ist, finde ich keinen Platz in der Arbeitswelt der ostdeutschen Provinz, aus drei Firmen bin ich schon gegangen worden, hinauskomplimentiert, halb geworfen, halb gesprungen, eine ABM konnte man mir nicht »anpassen«. So sollte ich einmal für einen Verein, der sich sexuell mißbrauchter Mädchen annimmt, die Sekretariatsaufgaben übernehmen, auch telefonische Erstkontakte. Durch die Blume sagte man mir, daß meine Stimme die Mädchen verunsichere, weil sie eben von Männern gepeinigt wurden … Ich konnte sogar mitgehen, das ist es ja! Den Weibern dort war das ungeheuer peinlich, sie schenkten mir zur Absage des vom Arbeitsamtes vermittelten Jobangebotes sogar eine Schachtel Belgische Meeresfrüchte, nun ja, ich hasse Süßes, das paßte.
Warum schreibe ich Dir das? Keene Ahnung. Eigentlich wollte ich mich nur bei Dir für das Wochenende bedanken, es war schön, Dich in Deiner Familie zu erleben, und daß die uns alle Zeit der Welt gelassen hat zum Quatschen, rechne ich Deinem Mann hoch an. Grüß’ ihn mal von mir.
Herzlich – Viola Malysch
Noch immer summt der Videotext. Es ist 3 . 06 Uhr, sie hat 8 Minuten gebraucht, um die Mail zu lesen, und nun unternimmt sie eine Fahrt ins Blaue und hofft, das Wochenende zu finden, von dem Viola sprach.
Helene hat Pläne. Jemand hat die für sie aufgestellt. Sie hängen über ihrem Kopfende und sagen an, was zu tun ist. In dieser Woche: physiotherapeutisches Turnen in Einzelbehandlung, ein Schwimmversuch, Ergotherapie im Keller, Massage, Logopädie, psychologische Einzelkonsultationen, progressive Muskelentspannung, eine Konsultation des Sozialdienstes, Psychogruppe.
Ihr wird schlecht.
Elektromyografisches Biofeedback ist noch nicht einmal dabei. Matthes hatte ihr einen Prospekt dazu in die stroke unit mitgebracht, ganz hibbelig war sie geworden von der Vorstellung, damit die Bewegung des rechten Armes zu trainieren. Dass das in ihrem Fall nicht gehe, hatte ihr gestern schon die Ärztin mitgeteilt, die die Erstuntersuchung vorgenommen hat: Mit Schrittmacher verbiete sich das. Ein bisschen wütend war sie schon gewesen, zumal ihr Interferenzen zwischen Feedback und Schrittmacher nicht zwangsläufig erscheinen. Keiner hier hat sie bislang nach dem Typ ihres Schrittmachers gefragt. Das müsste man aber doch wissen, um sagen zu können, ob sich Biofeedback tatsächlich verbiete. Leider war sie zu aufgeregt gewesen, um das deutlich sagen zu können.
Sie kann sich nicht vorstellen, solch ein Programm durchzuhalten. Rein in den Rollstuhl, raus aus dem Rollstuhl … Die Schwester muss es angebracht haben, als sie noch nicht ganz munter gewesen war. Wie soll das gehen?
Helene wurde angezogen, sitzt jetzt im Eckchen und wartet darauf, zum Frühstück abgeholt zu werden. Klein und zusammengerutscht kommt sie sich vor, als die Tür aufgeht und eine mächtige Person, die ihr noch unbekannt ist, sie abholt. Die Person sagt nichts, nicht einmal Guten Morgen, sieht an ihr vorbei oder über sie hinweg und bringt sie wortlos ins Frühstückszimmer. Da sind sie wieder, die Hilfsmittel: das Nagelbrett für die Brötchen, die Tasse mit beidseitigem Henkel, die merkwürdig geformten Besteckteile, die Lätze und
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