Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
schaffte es nicht, an diesem Abend die Etikette abzulegen, sie blieb der verwandelte Vamp, dessen Lippenstift stündlich nachgezogen werden musste, und erst als sie viele Gläser Wein getrunken hatte, sodass die häufiger nötigen Gänge zur Toilette sie Anstoß nehmen ließen an Tisch und Bank und Stuhl und Schrank, verzog sich die Wimperntusche in dunkle Augenringe, kam sie mit über die Lippenkontur hinausschießendem Mundrot zurück, sah es so aus, als begänne das Make-up geradezu von ihren hohen Wangenknochen abzubröckeln.
Helene verspürte den Impuls, ihr Babyöl und zur Nachbehandlung Waschlappen und Handtuch zu reichen, unterließ das aber wohlweislich. Das, worüber sie tatsächlich sprachen, bewegte sich haarscharf an dem vorbei, worüber sie hatten sprechen wollen. Viola erzählte von der Gewichtszunahme, die ihr seit einigen Jahren zu schaffen mache, unterließ es aber, über die gleichzeitigen hormonellen Umstellprozesse in ihrem Körper zu sprechen, die vor der Operation begonnen hatten und danach natürlich beibehalten werden mussten. Sie sprach von den Cremes, die sie benutzte, die Rosazea zu bändigen, aber nicht davon, wie die wahrscheinlich täglich nötige Rasur die Haut zusätzlich beanspruchte. Sie redete davon, wie sie versuchte, ihr Brot freiberuflich mit dem Aufschreiben der Geschichten alter Leutchen zu verdienen, die ihre Biografien gern als gebundenes Buch ihren Kindern und Kindeskindern schenkten und sich das sogar etwas kosten ließen. Über die Irritationen der Anrufer und Anruferinnen beim ersten Kontakt sagte sie kein Wort, ebenso wenig ließ sie darüber verlauten, wie vieler potenzieller Kunden sie wieder verlustig ging nach einem solchen Erstgespräch. Erst, als sie auf Zurückliegendes zu sprechen kamen, auf Studium, Armeezeit und, ja, auch auf die Ehe, sagte Viola laut und deutlich ich , als sei sie sich ihrer selbst in der Gegenwart keinesfalls sicher.
Nachdem sie als Viktor Malysch anderthalb Jahre Grundwehrdienst abgeleistet hatte, war sie Lehrerin für Deutsch und Musik geworden. Gearbeitet als solche hatte sie aber nie, sondern dem Studium ein Forschungsstudium aufgepappt, das sie zum Dr. phil. befördert und die Universitätskarriere nahegelegt hatte. In die Zeit der Dissertation war eine Frau eingefallen, die sehr schnell ihre war: Sie fühlte sich verpflichtet, sie zu heiraten, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr. Die Zwillinge waren 1983 zur Welt gekommen. Da endlich liebte sie ihre Frau, die nicht ahnte, dass der Vater ihrer Söhne ebenfalls eine Frau war. Eigentlich hätten sie schöne Jahre gehabt, sagte sie, so schön, dass sie mit dem Outcoming dem Ganzen die Krone hatte aufsetzen wollen. Sie hatten zwei Kinder, das war der Traum vieler Lesbenpaare, die sie kannte. Ja, dieses Traumleben hätte sie endlich führen wollen! Dass ihre Frau keine Lesbe war, musste sie irgendwie ausgeblendet, nicht mehr zugelassen haben, meinte sie. Der Schock wäre beidseitig gewesen: Ihre Frau hätte ihre Verkleidung zunächst für einen Scherz gehalten, der im Zusammenhang mit der Bartabnahme stehen musste. Als Viola aber das Tuch vom Kopf genommen und sie die Glatze erblickt hätte, sei sie regelrecht zusammengebrochen und hätte im Beisein der fast zehnjährigen Söhne einen Schreikrampf erlitten. In diesem Moment wäre es Viola wie Schuppen aus den Haaren gefallen: Ihre Frau liebte Bart und Schwanz und Waschbrettbauch und Bizepsaufgang, all das, was ihr so unerträglich war, dass sie nun alles daran setzen wollte, es loszuwerden, und die Unvereinbarkeit ihrer beider Viola-Vorstellungen musste sie beide an den Rand des Abgrunds gebracht haben, der ihre Ehe fortan war. Sie hatte ja nicht einfach aufhören können, ihre Frau zu lieben. Viele Male noch hätten sie miteinander geschlafen, weil sie es sich gewünscht und geglaubt hatte, Viola umstimmen, ummodeln, auf den rechten Weg zurückbringen zu können. Aus der Traum, an der Mann hätte Viola diese Akte bei sich genannt. Aber sie sei sich immer fremder geworden dabei und habe schließlich keinen mehr hochgekriegt. Es blieb bei aus der Traum . Der Mann verschwand. Ihre Frau, sagte Viola, hätte es noch drei Jahre lang mit ihr versucht und allen guten Willen der Welt gezeigt. Als die Zwangsscheidung anstand, weil Viola die Operation mit Personenstandsänderung anstrebte, hätte sie oft geweint, weil es ihr so unvorstellbar erschienen wäre, auf diese Art den Mann loszuwerden, aber hätte Viola darauf verzichtet und nur den
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