Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
Vom Netzwerk:
der Dusche wusch und sie an Matthes dachte.
Matthes. Maljutka Malysch.
Maljutka Malysch. Matthes.
Wenn sie sich zwischen zwei Polen bewegte, die sich abstießen, weil sie gleich stark waren, wie war es da um die eigene Ladung bestellt?
Vielleicht, denkt sie, hatte ja der Aufenthalt in diesem enormen Spannungsfeld zum Kurzschluss in ihrem Hirn geführt.

Hinter den Dünen des Schlafs rauscht es. Es braucht lange Minuten, bis sich das Rauschen heraufgeschleppt hat, Träume vertreibt und jetzt laut und deutlich im Raum steht. Helene macht Licht, greift zur TV-Fernbedienung: 2 . 36 Uhr laut Videotext. Was rauscht hier? Die Nachtschwester hat das Fenster offen gelassen. Draußen muss schwerer Wind gehen, er dröhnt, jetzt hört sie es überm Rauschen, hochfahrend vorbei. Der Wald tönt, hinterm Haus fällt er ab, zum See hinunter, und es ist ihr, als käme er immer näher, um irgendwann seine belaubten Äste durchs Fenster zu schieben. Dennoch möchte sie sich nicht aufhieven, es zu schließen, zieht stattdessen die Decke noch ein Stück höher: Warm ist es drunter, durchs Fenster strömt Kälte ein. Der Herbst kommt, lässt sich nicht verleugnen. Immer im Herbst kommt tiefe Melancholie …
Mit diesem Satz hatte Matthes sich für gewöhnlich aus der Affäre gezogen, wenn er auf ihre herbstlichen Traurigkeitsanfälle im November nicht reagieren konnte. Meist war er geflohen und hatte abwarten wollen, bis sie vorbei waren. Fast zwanzig Jahre lang war das gut gegangen: Er hatte bis Anfang Dezember in einem anderen Zimmer geschlafen, in der ersten Wohnung bei den Kindern, in der zweiten in der Diele, in der dritten im Esszimmer, und seit sie das Haus bewohnten, schlief er in seinem Arbeitszimmer unter dem Dach. Letztes Jahr nun hatte Maljutka Malysch dort Platz genommen, wo sich sonst der Trübsinn fläzte. Dass Helene heiter und aufgeräumt gestimmt gewesen sei, kann man kaum sagen, aber auch Melancholie war ihre Sache im letzten Herbst nicht. Sie hatte sie vorgespielt, um Matthes in sein Zimmer zu treiben, hatte sich in einsamen Nächten fest in die Decke gewickelt und an nichts zu denken versucht. Manchmal war Lottchen zu ihr gekrochen, und sie hatte sie im Arm gehalten, wie man wohl nur sein jüngstes Kind im Arm halten kann: mit unterschwellig schleichendem Schmerz und dem Wunsch, in dieser Stellung bis zum Sanktnimmerleinstag zu verharren, darauf bedacht, es nicht durch eine unbedachte Bewegung zu wecken. Lottchen hatte sie zuverlässig ablenken können von der Verwirrung, die Maljutka Malysch in ihr ausgelöst hatte, sie hatte ein Tuch um die Nachttischlampe geschlungen und sie in deren gedrosseltem Schein stundenlang, scheint es ihr heute, angeschaut. Langes, braunes Haar, kleine Narbe auf der überaus hohen Stirn, Augen beinahe asiatisch geschlitzt (Mongolenfürstin hatte Matthes sie genannt, als er sie zum ersten Mal ansah), Ohren leicht abstehend – sie hatte in ihr stets die hinreißende Kopie ihres Vaters gesehen. An den Tagen hingegen hatte sie zu arbeiten versucht wie immer. Maljutka hatte begonnen, ihr zu mailen, erst vorsichtig, dann offener, freier, und Helene hatte ihre Post sehnsüchtig erwartet. Es ist 2 . 58 Uhr, als der Laptop endlich sein Startprogramm hinter sich hat, sie kann es kaum erwarten und wird fahrig.
22 . 11 . 02
Liebe Helene,
wennste wüßtest, wie sehr ich mir gestern das Kreuz verhoben habe, als ich die Bücher vom Regal auf den Boden packte, um zwei Bretter wieder festzukloppen, würdest Du mit Sicherheit über mich lachen. Sowieso lachst Du über mich, nicht? Wie soll eine auch nicht über die andere lachen, die den Bauch nicht flach kriegt und die Füße nicht kurz, und die immer aussieht, als wären Pat und Patachon übereingekommen, es in einem Körper zu versuchen … Wer es wirklich in meinem Körper versucht, weeßsch doch dabei selbst nich so jenau. ’S wird der Deibel sein, der seine weibliche Hälfte was vonne Welt sehen lassen will. Meenste nich auch? (Kann man das eigentlich Humor nennen?)
Die weibliche Hälfte vom Deibel läßt ehmt ihre Brüstchen nur halb rausgucken ausm Kerl, der nich von seiner Gestalt lassen kann …
Ich habe mir also das Kreuz verhoben und plötzlich gewußt, daß ich der Chorgemeinschaft nicht mehr vorstehen kann, als Chorleiterin nicht und als Vorstandsmitglied noch weniger. Darauf hast Du mich gebracht, wahrscheinlich schon in Sanssouci, als Du mich gleich nach dem Kennenlernen wieder verabschiedetest. Die Erleichterung stellte sich mit dem

Weitere Kostenlose Bücher