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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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ihre Unschuld hielt, auch wenn sie es, hätte man sie danach gefragt, lauthals verneinend verlacht hätte.
Die Bröckelkulisse des Bahnhofes Ostkreuz hatte immer wieder Vertrautheitsgefühle zur Folge, sie übersah den Bahnsteig einfach mit seinen Buden und Verkaufstheken, sah nur den Penisturm, dessen Aufragen jeden Moment der Erschlaffung zu weichen drohte, sah die Ruinen auf der dem Bahnsteig abgewandten Seite und fühlte sich daheim. Im Ruinösen. Noch zwei Stationen bis Ostbahnhof, und der Zug ruckelte weiter durch einen ebenso ruinösen Schacht. Sie glaubte, sich die verfugten Ziegel einprägen zu müssen, und schloss immer wieder für Momente die Augen. Als der Zug in Warschauer Straße hielt, waren es die Pflastersteinlöcher des Bahnsteiges, die sie als Geisel nahmen, sodass sie, als sie in Ostbahnhof ausstieg, aufatmete: Hier fiel Erinnern schwerer. Hier hatte man aufgeräumt. Die Wahrnehmung ist ein komisches Ding, hatte sie noch gedacht, als auch schon der Zug aus Potsdam einlief. Rotgesichtig stieg Viola aus und stolperte ungelenk auf Helene zu, ihr Gesicht schien hart verkniffen, konnte aber sporadische Anfälle von Erlösung nicht verleugnen, die besonders dann auftraten, wenn Helene ihr fest in die Augen zu sehen versuchte.
Betör mich, Maljutka, Malysch, mach mich süß.
Ganz plötzlich waren diese sieben Worte dabei, sich einfach aus ihrem Mund zu wickeln, sie konnte sie eben noch zurückhalten, aber ihr Aussehen hatte sich schon ins Betörte verändert. Viola sah es. Und ihr Gesicht tat es dem Helenes für einen Moment gleich.
Sie berührten sich nicht, wenn man vom Händeschütteln absah, an dem man, wie Viola meinte, die Ostdeutschen noch immer erkennen konnte. Als Nichtostdeutsche hätten sie sich, vermutete Helene, links und rechts auf die Wange geküsst. Das wäre ihr aber keinesfalls intimer vorgekommen. Die Fahrt über sprachen sie wenig, wichen dem Blick der anderen immer wieder aus, auch, weil Helene nicht fassen konnte, was ihr geschah (sie war drauf und dran, sich heillos zu verlieben!), und Viola (sie hatte sich bereits heillos verliebt …) ihrer selbst immer unsicherer wurde. Gepäck hatten sie kaum, hatten beide nur Unterwäsche eingepackt, einen Pullover und Waschzeug. Pasewalk. Anklam. Helene hielt die Augen geöffnet und stierte ins Weite. Eben war sie unterwegs in der Idee, die sie sich von Violas Gesicht machte, das sie nicht sah. Beinahe hätte sie den Rucksack liegen gelassen, als sie in Züssow plötzlich zum Ausstieg gedrängt wurde. Der Anschlusszug wartete. In Zinnowitz früher Abend, es dunkelte, und als sie auf dem Weg in die katholische Begegnungsstätte waren, in der Viola ein Zimmer für sie gebucht hatte, zwei Freundinnen, hatte sie angegeben, als sie gefragt worden war, tönte laut die Marschmusik aus der Muschel, dem Musikpavillon.
Plötzlich Stille. Der Kuss.
Und: die Nacht.

Die Nachtschwester will sie also waschen. Helene will das alleine machen. Vom Rollstuhl unter die Dusche zu kommen, schafft sie aber nicht. Die Schwester greift zu. Griffe Maljutka Malysch zu – sie weiß plötzlich nicht, ob das besser wäre. Eine Erleichterung? Irgendetwas steht ihr im Wege, als sie sich Viola bei sich vorstellt. Da fällt ihr ein: Sie spricht hervorragend Russisch. Helene spricht gut Russisch, nicht hervorragend. Nein, sie sprach gut Russisch, sie möchte lieber nicht in die Verlegenheit kommen, es ausprobieren zu müssen. Malysch ? Das bezeichnet im Russischen den kleinen Jungen, den Knirps, man sagt es auch unter Männern, vielleicht ein bisschen abwertend?, wenn man den anderen nach den Umständen fragt: Na, Kleiner, wie geht’s? Viola hieß »kleiner Junge« mit Zunamen und wollte doch lieber Maljutka sein, die Kleine, das Mädchen. Maljussenkaja gar, Kleinchen, aber solch zärtliches Wort findet sich im Deutschen gar nicht, das russische auch nur annähernd wiederzugeben. Helene hatte es schließlich bei Maljutka Malysch belassen, zweideutig war’s, eben so, wie Viola ihr wirklich erschien, stückweis Mann, stückweis Frau, je nachdem, je nach Lage, je nach Gusto, je nach Wunsch. Und gewünscht hatte sie sich?
Sie weiß es nicht.
Sie weiß aber, dass ihre erste Nacht sie nicht hatte leer ausgehen lassen, so wenig sie auch auf sich selbst geachtet hatte, sondern Maljutka Malysch unter die Haut gekrochen war, schließlich, und sie hatte sich nicht fragen müssen, was sie da tat.
Daran zu denken, lässt etwas anschwellen. Wie vor einigen Wochen, als Carola sie unter

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