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Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Du stirbst nicht: Roman (German Edition)

Titel: Du stirbst nicht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Schmidt
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geschenkt hat zu seinem Geburtstag, und will sich wieder zu einer Art Ruhe zwingen, mit der sie einem Gedanken zu folgen vermag, statt viele splittern zu sehen.
Violas Name … Verflucht noch mal, wie hieß sie mit Zunamen? Gibt es das? Dass ihr der nicht einfallen will? Sie tänzelt im Halbdunkel, Gardinen hat sie zugezogen, um Viola herum – es bleibt dabei: kein Zuname für die Violaperson, deren Existenz zwar sicher, deren Verbleib aber ein Rätsel für Helene ist. Die Unsicherheit dehnt sich aus, sie schwimmt im blinden Fleck, ohne einen Haltepunkt zum Ausruhen, zum Verschnaufen zu haben. So wird sie bedrohlich, Helene will ihr entkommen und sich aufrappeln, in den Rollstuhl, aber die Hand ist zu fahrig, als dass sie ihn neben das Bett ziehen könnte, und in dem Moment, da sie darüber heulen und schreien möchte, rückt sie an: die Erinnerung. Rückt an mit Paukern und Trompetern, die in einer geöffneten Betonmuschelschale Marschmusik intonieren, Radetzky erkennt sie und Graf Zeppelin, und nun hält sie die Hände an die Ohren und drückt mit beiden Zeigefingern in schnellem Rhythmus immer wieder den knorpeligen Fortsatz am Beginn der Gehörgangs fest an. Auch das Ohr kennt eine Flimmerverschmelzungsfrequenz, muss sie jetzt denken, denn was sie hört, bleibt jenseits davon und ist eine schnelle Abfolge von Einzeltönen, die keinen Bogen ergeben, keine Melodie. Sie muss lachen, dreht sich um – zu Viola, die den Kopf schräg hält und nach Helenes Händen greift, langsam, sie schiebt sie hinunter. Helene schließt lächelnd die Augen, als Viola sie küsst. Zum ersten Mal. So selbstverständlich kommt ihr das vor, dass die Marschmusik aus der Muschelschale zum schirmenden Cape um sie herum wird, unter dem Stille herrscht. Kein Geräusch durchkreuzt den Moment, der sich dehnt wie vordem die Unsicherheit, und als sie sich voneinander lösen, ist Helene auf eine ruhige Weise entrückt.
Nein, Abendbrot essen will sie heute nicht.
Die Schwester geht achselzuckend.
Helene schmiegt sich ins Erinnern und liegt als gekrümmtes Etwas im Bett, als die Schwester zur Nachtwäsche wiederkommt.
Viola, Maljutka …
Die Schwester schaut fragend, was sagen Sie? , in Helenes plötzlich weit aufgerissene Augen.
Maljutka.
Kleine.
Junge?
Eine Fünfzigjährige …
Sie heißt Malysch, natürlich.

Viola Malysch kommt nicht langsam, sondern im Sturmlauf zu Helene. Zurück? Darüber denkt sie nicht nach.
Der Kuss hatte in Zinnowitz stattgefunden, im Ostseebad. Winter des vergangenen Jahres. Die letzten Tage vor Weihnachten. Gerade war Helene aus dem Münsterland heimgekehrt. Verabschiedet hatte sie sich nicht von ihrer Familie, sondern einfach einen Zettel auf den Tisch gelegt. Bin Heiligabend wieder da.
Auf dem Weg zum Ostbahnhof hatte sie so tun müssen, als nähme sie Berlin für lange Zeit zum letzten Mal wahr. Die Dampfpilze des Kraftwerks Rummelsburg stachen weiß in den Himmel. Vor der Umstellung von Kohle auf Erdgas 1988 hatten sie grau ausgesehen. Sie erinnerte sich daran, weil sie jahrelang jede Woche viel Zeit mit den Kindern in der Musikschule Lichtenberg verbracht hatte. Vorwendlich und nachwendlich. Ununterbrochen waren ihr kleine Kinder nachgewachsen, die den Weg noch nicht allein zurücklegen konnten. Die ersten Jahre waren sie mit der S-Bahn gefahren. Im Nachwendejahr war sie auf die 1988 begonnene Fahrschule zurückgekommen. Eigentlich hatte sie sich nach der Theorie und den ersten praktischen Übungen im Trabant Kübel auf dem Idiotenplatz in Schönefeld davon verabschiedet, weil sie gemeint hatte, niemals genug Geld für ein Auto zu besitzen, für das sie noch dazu keine Bestellung aufgegeben hatte. Nach 1989 hatte auch diese Überlegung ihren Sinn verloren. Sie legte die Prüfung ab. Das erste Auto war ein Wartburg gewesen. Damit waren sie schneller zur Musikschule gekommen, auch wenn auf der B I immer wieder gebaut wurde. Dass der graue Pilz des Heizkraftwerkes der Stadt ebenso den Atem genommen hatte wie der Rauch der vielen Kohleöfen, der über den alten Siedlungsgebieten hing, war ihr erst klar geworden, als sich, Jahre nach der Wende, dort plötzlich freier Luft holen ließ. Man hatte saniert . So weiß, war der Dampf Unschuldslamms Lockenpracht. Sie sah ihn, und etwas in ihr zog sich zusammen.
Erst, als sie Tage später zurückkam, wusste sie, was es gewesen war: Sie hatte gespürt, auf eine Reise in den Verlust ihrer Unschuld zu gehen. Das, was sie in irgendeinem unzugänglichen Winkel ihres Kopfes für

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