Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
eingegangen. Als sie am sechzehnten November aus der S-Bahn stieg, blieb sie neben Helene stehen. Die aber lief vorbei: Sie hatte sie nicht erkannt. Das vor ein oder zwei Wochen noch graue, schmucklose Haar war frisch getönt, geschnitten und in Wellen gelegt und wurde am Hinterkopf von einer Muranoglasspange gehalten. Make-up und gezupfte, gefärbte Brauen hatten dem Gesicht eine gewisse Starre gegeben. Viola trug ein dickes, schwarzes Kostüm, das maßgeschneidert worden sein musste, denn in diesen Proportionen war so etwas von der Stange sicher nicht zu bekommen, und einen bunten Paschminaschal um den Hals. Die Füße steckten in schwarzen Stiefeletten, deren Sohlen so geschickt in einen verkürzten, angeschnittenen Absatz überführt worden waren, dass man die Größe zunächst nicht wahrnahm. Überm rechten Arm lag eine hellgraue leichte Webpelzjacke, und mit der linken Hand stützte sie sich auf den Griff eines edlen Lederköfferchens zum Ziehen. Helene lief vorbei. Als Viola sie beim Namen rief, drehte sie sich erschrocken um. Sah, wie Stolz und Enttäuschung darum rangen, in Violas Mienenspiel den Sieg davonzutragen. Sah in ein Gesicht, dessen befremdendes Ebenmaß eben aufzubrechen begann, um den Mund herum, wo die dicke Schicht erste Risse bekam. Helene schreckte zurück im Inbegriff des Umarmens, es war eine Sache von Sekundenbruchteilen, sich zu überlegen, dass Violas Make-up womöglich weiter verschlieren würde, wenn sie sich zu nahe kämen. So blieb es beim Händeschütteln, wie es auch vier Wochen später beim Händeschütteln bleiben sollte, als Viola dabei war, zu Maljutka Malysch zu werden in Helenes Kopf.
Helene griff das Köfferchen und trug es die Bahnhofstreppe hinunter. Lottchen sah die große, fremde Person verstohlen, mit distanziert wirkendem Interesse an, während sie an Helenes Hand hinabturnte. Man sah, welche Register in ihrem Kopf gezogen wurden, Stimme, Figur und Aufmachung in Übereinstimmung zu bringen. Unten angekommen, war das wahrscheinlich vollbracht, denn Lottchen reichte nun Viola unbefangen die Hand, sie zu begrüßen.
Helene kaufte frisches Brot in der Bäckerei, ehe sie den Weg in die Arberstraße nahmen. Das Viertel zeigte noch vereinzelt Spuren der Russenzeit , die seit 1994 vorbei war. Klein-Moskau hatte man Karlshorst früher genannt. Ganz in der Nähe war das Kapitulationsmuseum, und manche der Villen, in denen höhergestellte Offiziere mit ihren Familien gewohnt hatten, zeigten tatsächlich noch vernagelte Türen und Fensterfronten. Vielleicht hatte man die Erben noch nicht ausfindig machen können, oder aber ganze Gemeinschaften von ihnen konnten sich nicht darüber einigen, wie mit dem womöglich unerwarteten Besitz zu verfahren sei. Es waren weniger geworden in den letzten Jahren.
Matthes und Helene hatten auf Teilungsland gebaut. Der Besitzer des Hauses an der Straßenfront hätte nicht die Mittel gehabt, es in einen wieder bewohnbaren Zustand zu überführen, wenn er sich nicht entschlossen hätte, die hinter dem Haus gelegene Hälfte des Grundstückes zu verkaufen. Nun hatten beide Parteien nur noch wenig Garten, aber das war Helene sogar lieb. Gartenarbeit lag ihr nicht.
Als sie das Gartentor öffneten, kam ihnen Lissy auf ihrem Fahrrad entgegen. Lissy wohnte seit Kurzem in einer eigenen Wohnung, die sie sich von ihrem Lehrlingsgeld leisten konnte. Bekifft sah sie aus, wie so oft in letzter Zeit. Helene schloss das nicht nur aus der Erweiterung ihrer Pupillen: Die Augen waren rot und tränten, sie aß mehr als gewöhnlich. Wenn sie sich freudig an Helenes Brust warf, um sie zu begrüßen, wusste sie, was die Stunde geschlagen hatte. Lissy warf sich nicht nur an ihre, sondern auch an Violas Brust, die verdattert zwischen Rad und Tor klemmte. Helene seufzte nur, vertagte die Auseinandersetzung. Drinnen dann rief sie Matthes aus dem Arbeitszimmer, um ihm Viola vorzustellen. Der kam eilig und leise summend die Treppe herunter und lief sofort zum Herd, wo er einen heißen Wirsingauflauf aus der Röhre nahm. Sie setzten sich an den Tisch, Mareile kam hinzu, sie hatte das Schulschwimmen hinter sich, und aßen. Tranken Wein. Es war Freitag, niemand musste am nächsten Tag früh raus, und so verlief sich der Abend in unaufgeregter Weise: Matthes ging zurück in sein Arbeitszimmer, Mareile übte Gitarre, was sie ausgesprochen gern tat, und Lottchen sah sich ein Video an, das ihr die Großeltern geschickt hatten. Helene blieb mit Viola in der Küche allein.
Viola
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