Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
findet sie. Sie fahren nach unten. Der Weg aus dem Haus führt durch die Cafeteria. Helene ist nicht nach Eis, aber Matthes hat schon zwei Tütchen gekauft, Limone Buttermilch, ihr Lieblingseis. Na gut, aber sie kann nur eines, entweder Rollstuhlfahren oder Eisessen! Matthes greift den Rollstuhl und schiebt ihn weiter, sie fährt mit der Zunge über das köstliche Eis. Nun ist ihr doch danach. Der Appetit kommt eben beim Essen. Überrascht zieht sie Matthes am Ärmel, als sie eine Rotkappe sieht, die sich aus märkischem Sand ans Licht bohrt. Gleichzeitig ist sie verärgert, dass bei jedweder Aufregung die Fähigkeit zu sprechen erst einmal versagt. Selbst wenn sie einen einfachen Pilz im Unterholz sieht. Sie schließt die Augen. Auf dem Gipfelpunkt der Anspannung legt Matthes seine Hand auf ihre Schulter. Langsam verebbt der Druck, sie merkt, wie sich Arm und Hand aus dem Spasmus lösen und schlaff auf der Stuhllehne ruhen. Matthes schneidet den Pilz mit dem Schweizer Taschenmesser, das er einfach immer dabeihat, aus der Erde, lässt dabei ein kleines Stielstück im Boden. Immer macht er das so. Sie glaubt zu wissen, dass es besser wäre, den Pilz ganz herauszudrehen. Schonender, weil man ihm nicht eine solch große Schnittwunde zumutet, besser für den Esser, weil gerade bei dickfleischigen Pilzen, wie es die Rotkappe ja ist, ein schönes Stück Fleisch im Boden bleibt. Da kann man nichts machen, Helene unterlässt es, ihm das sagen zu wollen. Er hat es auch in den Jahren zuvor nicht gehört. Sie denkt darüber nach, was man in der Beziehungskiste überhaupt hört. Was hört sie von ihm und was nicht, und scheppert der Kistenverschluss womöglich so laut, dass sie einander zubrüllen könnten, was sie wollten? Die Rotkappe im Schoß, geht es weiter nach unten. In Serpentinen hat man hier einen rollstuhlgeeigneten Weg angelegt. Am See dann eine Feuerstelle, eine überdachte Sitzgruppe und um alles herum ein steinerner Bankkreis. Matthes setzt sich, sie steht ihm gegenüber, dreht dann aber den Stuhl, dass sie, seinen Blick im Rücken, aufs Wasser hinausschauen kann. Es war ein Sommer ohne große Gelegenheit zum Baden, jedenfalls war ab Anfang Juli Schluss damit gewesen, und ob sie im Juni noch schwimmen war, daran kann sie sich nicht erinnern. Von hinten gerät jetzt eine Weintraube in ihr Blickfeld. Matthes lässt sie vor ihren Augen baumeln. Was will er sie denn immer wieder füttern! Sie fährt ein Stück beiseite, demonstrativ das Limoneneis erhoben wie eine Brandfackel.
Stille.
Niemand außer ihnen ist hier unten.
Ein Düsenjäger am Himmel malt einen Kondensstreifen. Langsam und ruhig sieht das aus.
Es ist so still, dass sie überlegen muss, wie Bedrohung klingen könnte.
Sie fragt sich, was Matthes verschwieg. Sie spricht nicht differenziert genug, um ihm beizukommen, denkt sie. Matthes ist klug. Matthes verdreht ihr die Sätze im Mund. Sie weiß es noch. Es gelang ihm nicht immer, aber oft. In dem Zustand, in dem sie sich jetzt befindet, würde er sie ohne Zweifel unterbuttern. Aussichtslos also, ihn auf irgendeine Weise zur Rede stellen zu wollen. Ohnehin lässt er sich nicht anbohren , wie er es nennt, wenn sie ihn nach etwas fragt, womit er gerade nicht beschäftigt ist, sodass es ihn einige Überlegung – vor allem Zeit? – kostet, umzuschwenken.
Wie ist es mit den Bügeln? Drücken sie?
Helene ist mit Matthes zum Optiker gerollt, zum einzigen, den es in Heidemühlen gibt, um sich eine neue Brille anpassen zu lassen. Der Optiker hat einen Spiegel wie einen dreiflügligen Altar. Darin kann sie sich von der Seite sehen. Was sieht sie? Der Haarwuchs auf der linken Seite ist noch spärlich, vielleicht einen knappen Zentimeter lang. Er ist völlig grau. Silbern stehen die Borsten zu beiden Seiten der Narbe vom Kopf ab. Sie dreht den Kopf: Auf der anderen Seite glänzt es kastanienbraun. Sie stellt sich vor, wie es aussähe, wären die Haare wieder gleich lang: links grau, rechts braun, der Gedanke beginnt ihr zu gefallen. Sie dreht einige Mal den Kopf.
Na wie denn nun, drücken sie?
Nein, sie drücken nicht.
Welche Brille sie nimmt, ist ihr völlig egal. Matthes hingegen versucht, ihr die Vor- und Nachteile der verschiedenen Modelle zu erläutern. Sie versteht Bahnhof. Will Bahnhof verstehen. Ob nun mit überstreckbaren, unkaputtbaren Bügeln oder aber aus Plastik – sie will nur sehen können damit. Sie will die Welt anschauen. Die Welt wird sie doch sowieso nicht mehr anschauen! Sie ist bereit, sich
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