Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
kleinen Dachgaube, in der ihr Schreibtisch steht. In Gegensatz zu ihrem Blick wird sie selbst wohl nicht hinaufklettern können. Sie seufzt. Natürlich ist sie stehen geblieben, denn gleichzeitig laufen und nach oben schauen könnte sie nicht. Matthes geht ihrem Blick nach, sagt, dass die Dachrinnen einer Reinigung bedürfen. Nun seufzt er. Sie lächelt, das Seufzen könnte wohl ein Schrittchen aus der Indifferenz in Richtung Eintracht sein.
Aber schon macht sich ihre Angst, Matthes’ Intellekt in keiner Weise gewachsen zu sein, bemerkbar, ist eine rhythmisch an- und abschwellende Tönung ihrer Art, miteinander zu kommunizieren. Zu ihrer Verständigung gehören nicht nur die wenigen Worte, die sie miteinander wechseln, sondern auch Matthes’ sofortige Druckerhöhung in Arm und Hand bei der kleinsten, an Strauchler gemahnenden Gangunsicherheit, der bemühte Gleichschritt, das vorsichtige Abtasten ihrer Wünsche nach einem Richtungswechsel. Müsste nicht die Tatsache, dass sie all diese Dinge zweifellos sofort mitbekommt, die Angst aushebeln? Tut sie aber nicht, nein. Wenn er spricht, schwimmt sie im Verstehen drei, vier Sätze auf gleicher Höhe, schnell wird es zu viel, kommt es nur noch zu punktuellem Auftauchen, bis sie ganz und gar abgesoffen ist. Seit sie das für sich zu wissen glaubt, will sie nach den ein oder zwei Sätzen ganz genau aufpassen und den Anschluss an einen fünften, sechsten nicht verlieren, aber irgendetwas in ihr macht ihren Kopf brausen, den Blutdruck steigen?, dass sie nicht anders kann, als wild um sich zu schlagen und dann doch aufzugeben. Mist aber auch. Da ist es gut, wenn er so wenig spricht wie jetzt. Hatte sie nicht vorhin erst an ihr Kapazitätsproblem gedacht?
Auf einmal hat sie das Gefühl, dass er sehr viel verstanden hat.
Die Mädchen haben Sellerie und Kartoffeln gekocht, Fleisch gebraten und einen Vanillepudding aus dem Kühlschrank geholt. Helene ist bemüht, den Mund geschlossen zu halten beim Essen. Kein Fädchen soll sich abseilen, kein Bröckchen herausfallen. In dieser Anstrengung krampft die rechte Hand, die sie nun unter dem Tisch zu halten versucht, die sich aber immer wieder langsam in die Höhe zieht. Es macht sie wütend, dass sie das Fleisch nicht selbst schneiden, die Kartoffeln nicht zerdrücken kann, oder? Ja, es ist Wut. Sie muss sich bezähmen. Mit ihrem dämlichen Schneidbrett hier zu sitzen, würde ihr schließlich auch nicht gefallen. Allmählich merkt sie, wie Speichel einschießt, wie sie die Kaumuskeln nicht mehr bewegen kann, weil ihr Gesicht von einer Heulattacke verzogen wird und ihr Mund sich öffnet. Tränen rollen. Meine Güte, warum muss ihr das aber auch immer wieder passieren! Und sie kann ja nicht einmal rausrennen! Allmählich scheinen sich die anderen immer weiter zu entfernen, sie zieht sich ganz auf sich selbst zurück und sitzt schließlich in der Ecke am Tisch, zwischen Wand und Billy, auf verlorenem Posten, ein verlorenes Kind, enfant perdu , schutzlos, als hätte man ihr das dicke Fell abgezogen, und hält den Kopf tief gesenkt, aus dessen fleischrotem Großloch durchspeichelter Brei längst hinabgestürzt ist, auf Bluse, Hose, Schuhe, sie schämt sich, im Schämen wird das Gefühl der Verlorenheit immer größer, bis sie schließlich gar nicht mehr da zu sein glaubt zwischen jenen Menschen, die sie in Briefen an ihre Eltern, als sie die noch schreiben konnte, meine Lieben genannt und das doch auch so gemeint hatte: Jeder war eine große Liebe gewesen. Kann man vor großen Lieben bestehen, wenn man spuckt, wenn man hilflos ist, sein Gesicht nicht beherrscht, seine Haltung verliert? Mareile umarmt sie plötzlich, ihr scheint das Gespucke nichts auszumachen, pass doch auf !, will sie rufen, dein Pullover !, aber nichts kommt mehr aus ihrem Mund, stattdessen fliegt auf einmal der linke Arm um Mareiles Schulter, ihr Kopf in die Nische zwischen Mareiles Kopf und Schulter, und nun sitzt sie, an ihre Tochter gelehnt, und spürt, dass die Tränen wohl endlich die längste Zeit geflossen sind. Gott sei Dank. Als sie sich später von ihr löst, sieht sie Fleischsellerie auf ihrer Brust, Kartoffelpamps im Hosenbund.
Armes Mädchen.
Jetzt lächelt sie wieder.
Jetzt lächeln die anderen aber nicht.
Jetzt aber bitte lächeln, meint ihr Blick, den sie von einem zum anderen schickt. Ist er flehentlich? Sie weiß nicht mehr, wie man einen flehentlichen Blick ins Gesicht hineinpflanzt. Sie will es versuchen. Ihre Versuche müssen komisch aussehen, denn
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