Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
wenige Tage aufweisen, kocht ein Schub Wut darüber hoch, den sie aber für gewöhnlich schnell unter den Deckel zwingen kann.) Als sie sich wieder hingelegt hat, merkt sie, dass ihr das Herz schneller schlägt, lauter, als wolle es gegen den Rippendruck aufbegehren. Die Stelle, an der das Plastikteil auf ihrer Haut liegt, wird heiß, sie schiebt die Hand unter dem Gummi hindurch und legt sie auf die Diskette.
Mein Schatz , sagt sie leise.
Es klopft. Matthes steckt den Kopf durch die Tür. Zeit zum Losfahren .
Was denn, hat sie so lange geschlafen? Und nicht mit den Kindern den Nachmittag verbracht? Vermutlich hätte es zu einem Memory-Spiel mit Lottchen kommen sollen, zu fünft hätte Monopoly zur Diskussion gestanden. Sie hätte sich rauswinden, hätte den Kindern begreiflich machen müssen, dass sie derartige Spiele nicht mehr durchschauen und noch nicht durchhalten kann. Schwer wäre es gewesen, sie nehmen ihre Einschränkungen viel eher als körperliche Gebrechen wahr … Fips ist schon da, steht im Flur und winkt Helene zu. Wohl oder übel muss sie aufstehen. Als sie in den Flur tritt, schaut Claudia um die Ecke, ein bisschen ängstlich sieht sie aus, so, als wisse sie nicht, womit zu rechnen ist. Claudia ist die Frau von Fips, größer als er, breiter sowieso. Sie begrüßen sich herzlich, Claudia war eine Meisterin des Hotzens gewesen. Dass ihr dieses Wort einfällt! Helene möchte hüpfen vor Freude, könnte sie es. Hotzen hatte ihr Vater das Hüten kleinerer Kinder genannt, sie erinnert sich der vergackerten Abende, in denen er das Buch, hieß es Thüringer Volkskunde? , aus dem Regal genommen und Worte wie Redewendungen daraus vorgelesen hatte, die es schon damals gar nicht mehr gab, die aber bei den Schwestern und der Mutter ebensolche Lachsalven ausgelöst hatten wie bei ihr. Längst müssen auch Claudias Kinder dem hotzbaren Alter entwachsen sein. Noch immer hält sie die Augen gesenkt und blickt vorsichtig nach oben, und erst, als Helene ihr in die Seite knufft und aufmunternd zulacht, bricht das Angsteis. Darunter kommt die alte Claudia mit der lauten, dem großen Resonanzbrustkorb entsprechenden Stimme zum Vorschein, und Helene schnippt vor Schreck ein Stückchen zurück, als die Stimme endlich erleichtert zu scheppern beginnt. Ja, so kennt sie die gute Claudia, vielleicht ist es schön, dass sie in der Nähe wohnt.
Matthes hat zwei Gläser dunklen Traubensaft, natürlich eigene Ernte, aus dem Keller geholt. Eines für den Chauffeur, das andere für Helene. Außerdem hält er ihr einen prall gefüllten Beutel hin, zu dem er jetzt nichts sagen will, den sie aber mitnehmen soll. Sie rollen zum Auto. Das Einsteigen gerät diesmal nicht zur Großaktion, denn Claudia weiß offenbar genau, wo sie anpacken muss. Als Matthes ihr Auf Wiedersehen sagt, ist sie sehr erschrocken, seine Zunge in ihrem Mund zu fühlen, damit hatte sie nicht gerechnet. Wann sie zum letzten Mal so geküsst wurde, weiß sie schon nicht mehr. Wann sie zum letzten Mal so geküsst hat, fällt ihr aber auf der Stelle ein, und sie wird rot. Maljutka hatte den Kuss nicht erwidert, war zurückgeschreckt, und sie hatten sich wortlos, kopflos getrennt voneinander. Ja, das war im April gewesen, sie hatten sich noch einmal getroffen, das Märzdesaster auszuwerten. Maljutka Malysch hatte es eher vergessen machen wollen, während Helene sich – sich zurückzuziehen gedachte! Die Mattheskiste wog zu schwer, um sie einfach am Wegrand abzukippen und eine neue, eine Maljutkakiste, aufzunehmen, hatte sie gesagt, sie hatte sich examinieren, die Gemeinschaft mit Matthes genauestens hinterfragen wollen, ohne zu wissen, wie das anzufangen war, sie hatte den Alkohol ausgeschlagen, den Maljutka vorausgreifend bestellt hatte, eine Flasche Rioja, wo war das gewesen?
So sehr ist sie auf den Abwegen des vergangenen Frühjahrs unterwegs, dass Billy gar nicht durchkommt zu ihr mit seinen Gutezeitwünschen bis zum Wiedersehen, seinem Konvolut Sorgenpüppchen, die er gebastelt hat, und erst Lottchens kleine Hand, die ihr mit der Patina des lieben langen Tages, Ketchup, Schlamm und Kinderknete, übers Gesicht fährt, bringt sie zurück in die Situation, die eine des Abschieds ist. Matthes’ Beutel stellt sie sich zwischen die Beine, das Handtäschchen baumelt am linken Arm. Claudia setzt sich nach hinten, als das Auto anfährt, winken die beiden Frauen. Helene sieht Matthes in die Augen, es will ihr scheinen, als beginne er zu heulen, und da, auf einmal, tut er
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