Du stirbst nicht: Roman (German Edition)
Kindergarten zurückgekommen waren, einige allein, einige an der Hand ihrer Mütter oder Väter. Dann war auch er hochgestürmt zu Helene, die, weil sie Billy nachmittags wieder abholen musste, mit dem Kindergarten vereinbart hatte, dass Bengt alleine nach Hause gehen durfte. Nichts hatte ihn verraten, jedoch hatte sich Helene beiläufig gewundert, dass er von sich aus so viel erzählte vom Kindergartentag. Hatte sich noch gefreut darüber, dass der Junge endlich angekommen schien. Heiliger Bimbam, wenn sie jetzt daran denkt, muss sie lachen, aber damals war ihr nun so gar nicht nach Scherzen irgendwelcher Art zumute gewesen, sie hatte Bengt bei den Armen genommen und geschüttelt, als er keine Auskünfte geben wollte über sein Tun und Lassen, und hätte sich die Frau Arztgattin nicht die Zeit genommen, in der Tür stehend abzuwarten, was Helene nun tun würde, so hätte sie ihm eine geklebt . Wütend war sie gewesen. Wenn sie es recht bedachte, jedoch auf sich selbst, die sie den Kindern im Moment mit unechten Späßchen die wenigen Stunden zwischen Arbeit und Bettgang zu fälschen versuchte. Selbstüberhebung. Sie war zwar Psychologin von Beruf, jedoch fraßen Herzeleids Katzenhaie an ihr wie an jeder anderen Frau herum. Sie hatte ihr Kind geschnappt, war mit ihm in den Kindergarten hinübergestiefelt und hatte es dort abgegeben, nicht ohne sich den Seitenhieb zu erlauben, dass man ja mal nachfragen könnte, wenn ein Kind unentschuldigt den dritten Tag fehlte. Noch dazu, wo sie im Kindergarten oft genug zu tun hatte mit Hospitationen, einem Gespräch mit einer Erzieherin oder einem gemeinsamen Eltern-Kind-Tag. Sie hatte Bengt nicht einmal angeschaut, als sie wieder losgezogen war, und sie hatte die Erlaubnis, dass er am Nachmittag alleine nach Hause gehen dürfe, widerrufen. Von da an war Bengt jeden Tag der Letzte gewesen, der abgeholt wurde, denn Helene schaffte es nicht, bergab und bergauf und wieder bergab und bergauf Fahrrad zu fahren mit beiden Kindern. So holte sie zuerst Billy.
Armer Bengt.
Ausflüge in die Vergangenheit unterlaufen Helene immer öfter unwillkürlich.
Jetzt versucht Matthes, sie abzuschirmen von den Kindern, lädt sie zu einem Gartenrundgang ein. Die Mädchen bekommen Anweisungen, das Mittagessen vorzubereiten, und schicken sich maulend drein. Sie geht mit Matthes über die Terrasse in den Garten, hat den Rollator im Haus gelassen und Matthes gebeten, sie zu stützen. Er ist nicht ängstlich, aber übervorsichtig, sodass sie ihn bittet, ein bisschen beherzter auszuschreiten. Die Quitte? Hat in diesem Jahr überreichlich getragen, der Keller steht voller Kompott und Quittengelee. Wofür Matthes sich Zeit nahm … Wenn er über Dinge nachzudenken hat, an Vorträgen arbeitet oder einen Artikel vorbereitet, macht er Handarbeit. Pappmaschee, Bügeln, Backen. Es kann dann vorkommen, dass er mittendrin davonläuft, sie hat schon einige Male das Bügeleisen ausstellen oder verbrannten Kuchen aus dem Ofen holen müssen. Dann ist ihm etwas eingefallen, das aufzuschreiben keinen Aufschub duldet. Worüber hat er nachgedacht, als es an die Quitten ging? Sie fragt ihn nicht, er verträgt keine Fragen. Wenn man so viele Jahre verheiratet ist, macht man nicht alle Fehler, die man machen könnte. Dennoch sind es genug, die Tag für Tag passieren. Es stört sie, schweigend neben Matthes herzutrotten. Die Abwesenheit von Zwietracht bedeutet nicht zwangsläufig Eintracht. Bedeutet, dass zwei trotz ineinander verhakelter Arme, ineinandergreifender Hände allein unterwegs sein können. Schon oft waren sie ihr aufgefallen, zum Beispiel, als sie vor zwei Jahren in Venedig auf der Rialto-Brücke kauerte und wartete, dass Matthes mit seiner Fotografiererei fertig wurde: Paare, Arm in Arm, deren Augen leer aneinander vorbeischauten trotz der Gondeln, der Paläste, die sich in ihnen spiegelten. Dabei waren die Gesichter einander oft ähnlich gewesen, maskiert mit Indifferenz, hinter der man eine gewisse Apathie erahnte. Sie hatte sich in Matthes’ Arme geflüchtet damals und ihn anzublicken versucht, aber er war sehr beschäftigt gewesen mit seiner Kamera, hatte geblitzt und sie abblitzen lassen. Regelrecht manisch nannte sie seine Art zu fotografieren, aber zuweilen kamen erstaunliche Bilder zustande. Auch von Venedig. Ein Foto hatte sie gerahmt und über ihren Arbeitsplatz gehängt. Sie sieht zu dessen Fenster empor, der Blick kraxelt mit dem wilden Wein über den seitlichen Wohnzimmerausgang die Fassade empor zur
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