Du und ich und all die Jahre (German Edition)
natürlich noch nie ein Wort mit mir gewechselt, weil er zwei Klassen über mir war und wir nicht mit den gleichen Leuten zu tun hatten. Wir hatten uns ein paar Mal zufällig in der Stadt getroffen, in Begleitung unserer Mütter, was so peinlich war, dass keiner von uns eine Silbe sagte. Alles, was ich über Julian wusste, seine Coolness, seine Unangepasstheit, seine Intelligenz, hatte ich in der Schule gehört. Oder seine Mutter (Sheila) hatte es meiner Mutter erzählt.
Und jetzt war er hier. Bei uns zu Hause. Ich warf ihm einen verstohlenen Blick zu, wie er auf dem Sofa an der gegenüberliegenden Wand saß und den leeren Fernsehschirm anstarrte, ein Sinnbild der Langeweile. Er war erst seit ein paar Minuten da. Meine Phantasien, in denen er, von meiner strahlenden Erscheinung geblendet, sprachlos dasteht, waren vergessen. Ich ging zu ihm rüber.
«Möchtest du was trinken?», fragte ich unsicher.
«Cola-Weinbrand», sagte er, ohne mich anzusehen.
Ich lachte nervös. «Ich weiß nicht genau, ob …», fing ich an, bevor mich sein vernichtender Blick zum Schweigen brachte.
«Okay», sagte ich und bahnte mir einen Weg durch die Gäste in die Küche.
Mom lehnte mit einem Glas Wein in der Hand an der Arbeitsplatte hinter dem Kühlschrank und lachte über die Bemerkung eines Mannes, der neben ihr stand. Ich hatte ihn schon einmal gesehen, er arbeitete auch im Krankenhaus, aber sein Name war mir entfallen. Sie standen sehr nahe beieinander. Das lag sicher daran, dass die Musik so laut war und man sich sonst nur schwer verstehen konnte.
«Entschuldigung, ich will nur eine Cola holen», erklärte ich und zwängte mich an Moms Gesprächspartner vorbei zum Kühlschrank.
«Kannst du dich noch an Charles erinnern, Liebling?», fragte Mom.
«Hallo, Nicky!», sagte Charles.
Ich nahm eine Zweiliterflasche Cola aus dem Kühlschrank und musste mich schwer zurückhalten, um Moms Kollegen nicht zu verbessern. Ich hasste es, wenn man mich Nicky nannte. Dad kam in die Küche gerast und prallte dabei beinahe gegen die Tür.
«Alles in Ordnung hier?», fragte er ein wenig zu laut und schaute uns gut gelaunt an.
«Ja, alles in Ordnung», sagte Mom. Ich merkte, dass Charles bewusst einen Schritt von ihr zurücktrat.
Es kamen immer mehr Leute in die Küche, Dad schenkte Getränke aus, und Mom nahm ihr Gespräch mit Charles wieder auf. Niemand achtete auf mich. Das war meine Chance. Ich hastete ans andere Ende der Küche, wo die Schnapsflaschen auf der Arbeitsfläche standen. Gordon’s, The Famous Grouse, Bacardi, Rémy Martin. Das war Weinbrand, oder nicht? Ich stellte die Colaflasche vor dem Rémy Martin auf der Arbeitsplatte ab. Nachdem ich mich mit einem Blick über die Schulter vergewissert hatte, dass niemand mich beobachtete, schraubte ich den Deckel der Flasche ab. Ich nahm einen Plastikbecher, goss ein wenig Weinbrand hinein und dann noch ein bisschen mehr (Julian wollte bestimmt eine starke Mischung), füllte den Becher mit Cola auf und schlenderte aus der Küche. Meinen Vater lächelte ich dabei breit an.
Julian schaute betrübt aus dem Fenster. Er hatte noch immer seine Lederjacke an, ließ die Schultern hängen und verschwand beinahe zwischen den Sofakissen. Ich überreichte ihm seinen Drink. Er nahm ihn wortlos entgegen, probierte und verzog das Gesicht.
«Gott», sagte er grinsend (beim Anblick seines Lächelns blieb mir beinahe das Herz stehen). «Wie viel Weinbrand hast du da reingetan?»
«Hausrezept», sagte ich ebenfalls lächelnd. Ein Spruch von Mom, den ich mal aufgeschnappt hatte.
«Danke.» Er prostete mir zu und trank wieder einen Schluck, dieses Mal einen kleineren. «Trinkst du denn gar nichts?»
«Noch nicht», sagte ich. Ich wollte später ein Glas Wein trinken, obwohl ich den nicht einmal besonders mochte. Außerdem machte er mich müde, und das hier war kein Abend, um früh ins Bett zu gehen. Ich setzte mich ein wenig zu dicht neben Julian aufs Sofa. Er rückte ab.
«Wie sind deine Ferien?», fragte ich ihn. «Schön?»
Er zuckte mit den Schultern. «Ganz okay, würde ich sagen.»
«Ich war gestern im Kino und habe Aus Mangel an Beweisen gesehen», sagte ich. Er sah mich verständnislos an. «Mit Greta Scacchi und Harrison Ford. Kennst du den?»
«Nee, ich kann mit dem Hollywoodscheiß nicht viel anfangen», antwortete er.
«Nein, klar. Er war ganz gut», sagte ich. «Also nicht schlecht, aber auch nicht sooo gut.»
Julian musterte mich, als wäre ich ein kompletter Volltrottel, doch
Weitere Kostenlose Bücher