Du und ich und all die Jahre (German Edition)
echter Radikaler. Seine Farben sind der Wahnsinn. Die Seagram Murals sind unglaublich. Er hat sich umgebracht, indem er sich die Pulsadern aufgeschnitten hat, hier, in der Armbeuge.» Er machte eine Geste, um seine Worte zu unterstreichen. «Er hat bis auf den Knochen geschnitten.»
Ich wusste nicht so genau, wie ich darauf reagieren sollte, also nickte ich ernsthaft.
«Aber verdammt coole Gemälde. Er hat in New York Kunst studiert. Ich will auch nach New York. Ich würde alles geben, wenn ich da wohnen könnte, du nicht?»
Darüber hatte ich noch nie nachgedacht, mir wäre jeder andere Ort als High Wycombe recht gewesen. «Wie dem auch sei», fuhr Julian fort. «Ich habe ein paar Bücher über Rothko zu Hause. Wenn du willst, kann ich sie dir mal leihen.»
«Danke, Julian, das wäre toll», sagte ich und meinte es ernst. Ich hatte noch nie in meinem ganzen Leben irgendetwas so ernst gemeint.
Julian warf seine Kippe aus dem Fenster. «Jules», sagte er, «meine Freunde nennen mich Jules.»
Es war die tollste Party aller Zeiten. Jules und ich steckten den ganzen Abend zusammen. Wir konnten nicht oben in meinem Zimmer bleiben, aber wir verbrachten ungefähr gleich viel Zeit in meinem Zimmer und im Wohnzimmer. Wir wanderten die Treppe rauf und wieder runter, aber nie gemeinsam, sondern immer einzeln, dabei passten wir auf, dass wir in der Küche oder im Wohnzimmer von genügend Leuten gesehen wurden. Ich versorgte ihn weiter mit Weinbrand und Cola, und je mehr er trank, desto redseliger und freundschaftlicher wurde er.
Wir redeten über Kunst, wovon ich eigentlich nichts verstand, über Musik, darüber wusste ich wenigstens ein bisschen was, über Bücher und Filme und darüber, dass Kathy Slattery James Tompkins auf dem Jungenklo in der Schule einen geblasen hatte. Mitternacht rückte näher. Ich fragte mich, ob es wohl um zwölf Uhr so weit sein würde. Würde ich einen Kuss bekommen? (Ich hätte es niemals zugegeben, nicht einmal vor meinen besten Freundinnen, aber obwohl ich bereits das biblische Alter von dreizehn Jahren erreicht hatte, war ich noch nie geküsst worden.) Ich versuchte, an etwas anderes zu denken.
«Hast du Vorsätze fürs neue Jahr?», fragte ich Julian vorsichtig. Ich hatte Angst, dass er Neujahrsvorsätze dumm, sinnlos oder bürgerlich fand oder so ähnlich.
«Ja, fünf Stück. Ich mache immer fünf. Zehn finde ich ein bisschen zu viel des Guten. Was ist mit dir?»
«Ich habe auch fünf.»
«Na dann, Miss Nicole», sagte er und lächelte dabei wieder unglaublich süß, «lass mal hören.» Er beugte sich vor, sein Gesicht war jetzt nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. Ich konnte fühlen, wie mir das Blut in die Wangen stieg.
«Du zuerst», sagte ich und drehte den Kopf weg. Oh Gott, oh Gott, oh Gott! Warum hatte ich das Thema angesprochen? Warum musste ich behaupten, dass ich fünf Vorsätze hatte? Warum zur Hölle nicht einfach vier?
«In Ordnung», sagte Jules und zündete sich eine neue Zigarette an. Dann lehnte er sich mit dem Rücken ans Fensterbrett. «Nummer eins: Ich will im Abschlusszeugnis eine Eins in Kunst, Englisch und Französisch haben. Das ist wichtig. Die anderen Fächer sind mir egal, aber in den dreien will ich gut sein. Zweitens: weniger rauchen. Ist ungesund.» Er grinste und nahm einen Zug. «Drittens: Nach London fahren und so viele Ausstellungen wie möglich anschauen. Mindestens zehn. Viertens …» Er zögerte. «Nein warte, das ist nicht fair. Ich habe drei aufgezählt, jetzt will ich drei von dir hören. Dann kommen die letzten zwei.»
Ich wurde leicht panisch.
«Ich sollte mich vielleicht mal wieder unten sehen lassen», sagte ich. «Meinen Eltern ist sicher aufgefallen, dass wir nicht da sind.»
«Blödsinn!», widersprach Jules lachend. «Die sind jetzt alle betrunken.» Als ich aufstehen wollte, griff er nach meiner Hand. «So leicht kommst du aus der Nummer nicht raus.» Er zog mich zurück aufs Bett. Sekundenlang sagte keiner von uns beiden ein Wort. Er sah mir direkt in die Augen und hielt noch immer meine Hand fest. «Also los», verlangte er leise, «was willst du nächstes Jahr machen?»
In diesem Augenblick dachte ich, ich kann es ihm einfach erzählen. Ich kann ihm sagen, dass ich ihn küssen will. Jetzt ist der richtige Moment, um es ihm zu sagen, der perfekte Zeitpunkt. Ich öffnete den Mund, kam aber nicht mehr dazu. Die Tür flog auf, und mein Vater erschien mit hochrotem Kopf, wütend und sehr betrunken. Ich zog meine Hand aus
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