Du wirst die Schoenste sein
Jenny, eine ehemalige Klassenkameradin, die begeistert von der WG in Freiburg erzählte, wo sie im Wintersemester unterkommen konnte.
„Riesige Altbauwohnung. Drei Mädels, zwei Jungs. Genau richtig, wenn wir Weiber in der Überzahl sind. Schöne Grüße übrigens von Alida, wir treffen uns nachher, sie will jetzt wohl Jura machen, ist sich aber noch nicht ganz sicher.“
Sorgen hatten die Leute, stöhnte ich im Stillen.
Während ich telefonierte, hatte ich Agnes Ernestos Nachricht zugeschoben. Ich beobachtete sie beim Lesen, gleichzeitig nach einem passenden Ausstieg aus dem Telefonat suchend.
Agnes reagierte ihrem Temperament entsprechend. Sie knallte mit der Faust auf den Tisch. „Widerliche Schlampe ... ja hat der sie noch alle?“
Ich hatte Agnes Ernestos Schreiben deshalb lesen lassen, weil ich dringend jemand brauchte, der klar denken konnte. Ich konnte es nicht.
Einerseits hätte Ernesto mich auf kaum eine hässlichere Art und Weise beschimpfen können, andererseits stellte ich mir vor, wie er mich im EL FUEGO gesucht und nirgends mehr gefunden hatte. Und dadurch zu dieser, für mich nicht nur kränkenden sondern auch völlig undenkbaren Schlussfolgerung gekommen war.
„Hilf mir Agnes. Was würdest du an meiner Stelle ...“
„Den Scheißkerl anrufen würde ich ... nein, doch nicht. Für mich wäre der erledigt ... mausetot ... oder ... ich würde ihm den Zeitungsartikel schicken, ja, genau, ohne Kommentar ... ach, keine Ahnung. Kommt darauf an, ja, genau, kommt darauf an, wie du zu ihm stehst. Wie stehst du zu ihm?“
Ja, wie stand ich eigentlich zu Ernesto und vor allem nach dieser widerwärtigen Beschuldigung? Natürlich war mir aber auch klar, dass es ein Indiz dafür war wie wenig er mich erst kannte und ich ihn ebenfalls.
Und dann war da noch etwas ganz anderes. Wurde eine Frau krank, ernsthaft krank vielleicht sogar, konnte sie, vorausgesetzt sie wollte das, offen darüber reden. Ein Vergewaltigungsopfer, ein Missbrauchsopfer jedoch ...
„Und wie soll ich Ernesto beibringen, wieso er mich nicht finden konnte? Soll ich sagen, tut mir leid, dass ich, anstatt in deinen Armen zu liegen, blöd genug war, mich von zwei Kerlen vergewaltigen zu lassen. Diese SCHANDE!“ Letzteres schrie ich geradezu. Tränen überschwemmten mein Gesicht.
Agnes stand schweigend auf, drückte mir eine Packung Taschentücher in die Hand und holte eine Flasche Rosado aus dem Kühlschrank und ihre Skatkarten aus einer Küchenschublade. Wir spielten Sechsundsechzig, ein Spiel, das mir noch meine Oma beigebracht hatte.
„Und reden“, sagte Agnes, „reden ist ab jetzt verboten.“
Ich hätte sie zu gerne noch gefragt, ob meine „Geschichte“ bereits rumging im Hotel, zumindest beim Personal, aber sie hatte ja recht, reden brachte uns heute Abend auch nicht weiter.
Die Sonne schien und ich saß eingesperrt in der Wohnung – im ständigen Kampf mit Selbstmitleid und idiotischen Ablenkungsmanövern wie zum Beispiel Hochglanz in Küche und Bad zu bringen. Wofür kontrollierte Atemzüge nötig waren, tiefes Atmen verursachte immer noch Schmerzen, ebenso wie jede unkontrollierte Bewegung. Ich hätte mir nie vorstellen können, wie quälend Prellungen sein konnten.
Dabei wollte ich nichts Dringender, als endlich wieder raus zu kommen aus der Wohnung, wünschte mir nichts mehr als meinen gewohnten Tagesablauf, ja ich sehnte mich geradezu nach der harmlosen Unbeschwertheit beim Umgang mit meinen Schäflein, den Hotelgästen. Nur ging das im Moment noch immer nicht, denn wenn ich vor dem Spiegel stand, blickte mich ein abschreckendes Halloween-Monster an. Zwar wurde der Bluterguss an meinem linken Auge allmählich heller, aber dafür farbiger und ließ sich auch von meiner Sonnenbrille nicht völlig verdecken. Insgesamt hatte mein Gesicht aber wieder seine Normalform, nur meine geschwollene, sich abwärts wölbende Unterlippe, die in der Klinik genäht worden war, sah immer noch schlimm aus.
Und in neun Tagen würde meine Mutter hier sein.
Ich lag lang ausgestreckt auf dem Bett und zog mir eine Kindersendung nach der anderen im Fernsehen rein. Wobei ich eine „Heidi“ – ja die mit dem Opa auf der Alm – die spanisch sprach, schon ziemlich gewöhnungsbedürftig fand. Aber irgendwie musste ich die Zeit totschlagen bis zu Agnes’ Mittagspause.
Dass sie bereits an der Tür nach mir rief, war ungewöhnlich, aber ehe ich mich noch aus meinem Bett raus arbeiten konnte, stand sie bereits in meinem Zimmer und
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