Duddits - Dreamcatcher
davon abhalten, überrascht nach Luft zu schnappen, aber sein Herz machte einen Satz, und ganz plötzlich kam ihm die Luft in seiner Lunge, die ihn bis hierher gebracht hatte, zu warm und schwer vor. Aber da war nichts; das hatte er sich bloß eingebildet. Dann sah er, dass dort doch etwas war. Licht kam zur offen stehenden Tür herein, ein wenig Licht fiel auch durch das einzige schmutzige Fenster über der Werkbank, und Henry hatte sich buchstäblich vor seinem eigenen Schatten erschreckt.
Er verließ den Schuppen mit vier großen Schritten, die Atemmasken in der rechten Hand. Er hielt noch die Luft an, bis er auf der Schneemobilspur weitere vier Schritte zurückgelegt hatte, und stieß sie dann aus. Er beugte sich vor, stützte die Hände oberhalb der Knie auf die Schenkel und hatte kleine schwarze Punkte vor den Augen, die sich aber bald auflösten.
Aus dem Osten kam ferner Schusslärm. Es waren keine Gewehrschüsse; dafür waren sie zu laut und folgten zu schnell aufeinander. Das waren automatische Waffen. Henry hatte eine Vision vor Augen, so deutlich wie die Erinnerung an die Milch, die seinem Vater übers Kinn gelaufen war, und die an Barry Newman, wie er in Windeseile aus seinem Sprechzimmer geflohen war. Er sah, wie die Hirsche und Waschbären und Waldmurmeltiere und Hasen und verwilderten Hunde zu Dutzenden und Hunderten niedergemäht wurden, während sie versuchten, dem zu entfliehen, was nun eindeutig ein Seuchengebiet war; er sah, wie sich der Schnee von ihrem unschuldigen (aber möglicherweise verseuchten) Blut rot färbte. Diese Vision schmerzte ihn unerwartet heftig, drang zu einer Stelle vor, die nicht tot, sondern nur betäubt war. Es war die Stelle, die so stark auf Duddits’ Weinen angesprochen hatte, das Weinen, das ihm fast den Kopf platzen ließ.
Henry richtete sich auf, sah frisches Blut auf der Handfläche seines linken Handschuhs und schrie mit ebenso zorniger wie amüsierter Stimme »Ach du Scheiße! « zum Himmel empor. Er hatte sich Mund und Nase zugehalten, hatte sich die Masken besorgt und wollte mindestens zwei davon tragen, wenn er die Hütte betrat, und hatte dabei ganz die Beinwunde vergessen, die er sich geholt hatte, als sich der Scout überschlagen hatte. Wenn dort im Schuppen etwas Ansteckendes gewesen war, etwas, was der Pilz absonderte, dann standen die Chancen ausgezeichnet, dass er es jetzt hatte. Aber er hatte sich eben auch nicht vorgesehen. Henry stellte sich ein Schild vor, auf dem mit großen roten Lettern stand: SEUCHENGEBIET! BITTE NICHT ATMEN, UND HALTEN SIE SICH ALLE EVENTUELLEN KRATZER ZU!
Er grunzte vor Lachen und ging zurück zur Hütte. Tja, was soll’s, er wollte ja sowieso nicht ewig leben. Fern im Osten ratterten die Schüsse ohne Unterlass.
3
Wieder vor der offenen Hüttentür angelangt, tastete Henry in seiner Gesäßtasche nach einem Taschentuch, hatte aber nicht viel Hoffnung, eines zu finden … und fand auch keines. Zwei der selten erwähnten Freuden des Lebens im Walde bestanden darin, hinzupinkeln, wo man wollte, und sich einfach so zwischen zwei Fingern in die Luft zu schneuzen. Es hatte etwas ursprünglich Befriedigendes an sich, Pisse und Rotze einfach so in die Welt zu versprenkeln … zumindest für Männer. Wenn man es so bedachte, dann war es schon ein Wunder, dass sich Frauen überhaupt einmal in die Besten von ihnen verliebten, vom Rest mal ganz zu schweigen.
Er zog sich die Jacke, das Hemd und das Thermo-Unterhemd aus. Die unterste Schicht bestand aus einem verblichenen T-Shirt der Boston Red Sox mit der Aufschrift GARCIAPARRA 5 auf dem Rücken. Henry zog es aus, drehte es zu einem Verband zusammen und wickelte es sich um den blutverkrusteten Riss in seinem linken Hosenbein. Dabei dachte er wieder, dass er die Stalltür schloss, nachdem das Pferd längst gestohlen war. Doch trotzdem füllte man die Formulare aus, nicht wahr? Ja, man füllte die Formulare aus und schrieb ordentlich und lesbar. Das waren die Grundsätze, auf denen das Leben beruhte. Anscheinend auch noch, wenn es mit dem Leben zu Ende ging.
Er zog sich die übrigen Sachen wieder über seinen gänsehäutigen Oberkörper und legte dann zwei der tropfenförmigen Atemmasken übereinander an. Er überlegte, sich auch welche über die Ohren zu ziehen, und stellte sich vor, wie sich die Gummibänder über seinen Hinterkopf ziehen würden wie die Riemen eines Schulterholsters, und da brach er in Gelächter aus. Sonst noch was? Wollte er sich die letzte Maske dann über ein
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