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Dünengrab

Dünengrab

Titel: Dünengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
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für einen Spontanbesuch war es weder die passende Uhrzeit noch das richtige Wetter. Niemand würde sich bei dem Nebel vor die Tür begeben, wenn es nicht unbedingt sein musste.
    »Hallo?«, rief Fokko in die Nacht. »Ist da jemand?«
    Als Antwort kam ein Stöhnen. Die Schritte wurden schneller, hatten nun die Einfahrt überwunden und klangen hohl und schleppend auf der Holztreppe, die zur Veranda führte. Wenig später kratzte etwas an der Haustür und pochte dagegen: Klopf, klopf, klopf …
    »Bitte«, klang eine dünne Frauenstimme wie durch Watte. »Bitte«, flehte sie erneut und schniefte.
    Fokko Broer wurde heiß und kalt. Was, zum Teufel, war da los? Er fasste nach dem Bademantel, der über einer Stuhllehne hing, warf ihn im Gehen über, eilte zur Tür und öffnete sie. Was er sah, verschlug ihm den Atem.
    Vor ihm stand eine Frau. Sie mochte vielleicht zwanzig Jahre alt sein, taumelte an ihm vorbei und zog eine leichte Alkoholfahne hinter sich her. Sie trug ein kurzes rotes Kleid und war barfuß. Auf den Oberschenkeln zeichneten angetrocknete Blutrinnsale ein bizarres Muster, das auf der linken Seite an der Wade in eine Tätowierung überging. Die Oberarme waren ebenso wie der Ausschnitt von Hämatomen und tiefen Kratzern übersät. Das Haar fiel ihr wirr in die Stirn. Die Unterlippe war aufgeplatzt und ein Auge zugeschwollen. Aus dem anderen starrte sie ins Leere, stieß wie eine außer Kontrolle geratene Billardkugel mit der Hüfte gegen die Kante einer antiken Kommode sowie gegen einen Tisch und blickte anschließend zu Broer, ohne ihn wirklich anzusehen. Da brauchte es nicht seine Erfahrung als Arzt, um sofort zu verstehen, dass sie entweder unter Schock oder unter Drogen stand.
    »Wo bin ich?« Die Fremde wollte sich eine schwarze Strähne aus dem Gesicht streichen, geriet aus dem Gleichgewicht und taumelte.
    Fokko Broer fing die Frau auf, was sie grundlegend falsch interpretierte. Sie begann zu schreien und um sich zu schlagen. Ihr Hinterkopf traf ihn auf die Nase, die in einem grellen Schmerz zu explodieren schien. Er ließ sie los und hob beschwörend die Hände.
    »Lass mich!«, schrie die Frau mit sich überschlagender Stimme. Sie schnappte sich einen Regenschirm von der Garderobe und hielt ihn wie einen Speer hoch, die Spitze auf Fokkos Kopf gerichtet. »Lass mich, du Schwein!«
    »Ich will Ihnen doch nur helfen …«, stammelte Fokko und spürte, dass ihm etwas Warmes aus der Nase in den Bart lief.
    Die Fremde hielt in der Bewegung inne und sah ihn verstört an. Ihr schneller Atem klang wie ein feuchtes Schnorcheln und ließ die Brust rasch ab- und anschwellen. »Sie müssen mir helfen«, sagte sie. Dann musterte sie den immer noch wie zur Lanze erhobenen Schirm verwundert, warf ihn achtlos zur Seite und schüttelte langsam den Kopf. Fahrig hob sie die Hand in die Luft. »Nein, ich bin hier falsch, das ist … nicht richtig …« Sie sah wieder zu Broer, wiederholte: »Nicht richtig«, und ging rückwärts zur Tür. »Lassen … Sie mich …« Wieder schüttelte sie den Kopf und machte eine abwehrende Geste.
    Broer hob noch immer die Hände, um die Verwirrte zu beschwichtigen. »Beruhigen Sie sich bitte. Sie müssen …«
    Weiter kam er nicht. Hinter der Frau grollte es wie aus der Brust eines Raubtiers, das mit den Krallen im Kies der Auffahrt scharrte. Die Frau drehte sich wie in Zeitlupe um und blickte nach draußen.
    »Er ist gekommen«, sagte sie wie in Trance. »Er ist gekommen und wird mich mitnehmen, weil wir alle nichts dagegen tun können, denn es ist so, wie es ist, und …« Sie knickte etwas ein und hielt sich am Türrahmen fest.
    »Kommen Sie wieder rein«, bat Fokko. Es erschien ihm, als bewege er sich in zähem Teig, während er einen Schritt nach vorne machte, um es noch einmal zu wagen, die Frau anzufassen, sie hereinzuziehen und die Tür zu schließen. Denn was immer da draußen sein mochte, es schien dafür verantwortlich zu sein, dass …
    Wie von einer unsichtbaren Kraft wurde die Frau im nächsten Moment mit einem Ruck in den Nebel gerissen und von ihm verschluckt. Eine Sekunde später hörte Fokko ihr Kreischen, das sich zu einem Flehen und Brabbeln wandelte und in kehligem Brüllen unterging.
    Broer zitterte am ganzen Körper. Er sackte auf die Knie und starrte durch die offen stehende Tür ins Freie – machtlos, die Schwelle zu überschreiten und der Frau zu Hilfe zu kommen. Er vernahm lautes Knirschen und blickte in zwei rotglühende Augen, die ihn fixierten und sagen zu

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