Dünengrab
um danach einen Blick auf das LCD -Display des Geräts zu werfen. »1.22 Uhr«, sagte Torsten. Dann fuhr er den Mitschnitt ab, und eine blechern klingende Frauenstimme erfüllte den Raum. Sie klang ängstlich, panisch, dann wieder tonlos und matt.
»Ich … Ich brauche Hilfe …«, sagte die Stimme.
»Wer ist denn da?«, hörte Femke Torsten auf dem Band.
»Ich … jemand verfolgt mich, und er … O Gott … Und ich habe all meine Sachen verloren …«
»Hallo, Sie müssen mir bitte sagen, wer Sie sind und wo Sie sind, was ist denn geschehen …«
»… es ist überall nur Nebel, und ich weiß nicht, wo meine Sachen sind … Er … Ich weiß nicht, aber ich glaube, er, ehm – hallo?«
»Hier spricht die Polizei. Wer ist denn da?«
Jetzt klang die Stimme nur noch wie ein Wimmern und Flehen. »Bitte, Sie müssen mir helfen …«
Damit brach das Gespräch ab. Torsten stellte den Anrufbeantworter wieder aus. »Was will man damit anfangen?«, fragte er und schob sich den Rest des Fischbrötchens in den Mund.
»Zum Beispiel die Nummer ermitteln und herausfinden, wer der Anschlussinhaber war«, sagte Femke und knetete ihre Knöchel. Als Kind hatte sie manchmal das Gefühl gehabt, als säße ihr ein kochend heißer Knödel im Magen, wenn sie etwas angestellt oder ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Der Kloß bedeutete Ärger. Und gerade fühlte es sich in ihrem Bauch so an, als habe sie eine frisch gekochte Kartoffel unzerkaut heruntergeschluckt. »Der Notruf und das Auftauchen dieser Frau bei Fokko Broer könnten zusammenhängen«, sagte sie. »Klang Fokko beunruhigt?«
»Jo, so hat der wohl geklungen. Möglicherweise hatte er aber wie gesagt …« Torsten tat so, als tränke er gerade ein Glas Schnaps auf ex.
»Ich glaube«, sagte Femke, »ich gucke da mal längs und frage ihn selbst.«
»Denn man tau.«
Femke nahm die Post und die Zeitung vom Tresen, klemmte sich alles wieder unter den Arm und ging in den Bereitschaftsraum. Sie hörte das Telefon klingeln, Torsten darüber stöhnen, dass er eigentlich schon Dienstschluss habe, und schließlich abnehmen. Es klang, als nehme er eine Anzeige auf, während Femke aus dem Spind ihren dunkelblauen Blouson und die weiße Mütze zog und auf einem Stuhl ablegte.
Ständig musste man Torsten alles aus der Nase ziehen. Statt dass er direkt mit dem Wichtigsten begann – aber nein, damit kam der feine Herr Polizeipräsident meist erst nach zahllosen Belanglosigkeiten daher. Sie schnallte sich den Gürtel um, an dem sich neben CS -Gas, Handschellen, einem Schlagstock und der Taschenlampe auch das Holster für die Dienstpistole befand. Sie schloss den Waffenschrank auf, nahm ihre Walther P1 heraus, schob ein Magazin ein und quittierte die Entnahme mit einer Unterschrift auf dem Protokollzettel. Sie steckte die Waffe in das Holster und legte die Sicherung um.
Es wurde Zeit, dass sie hier wegkam. Es war überfällig. Femke dachte an die rote Mappe auf ihrem Schreibtisch. Sollte ihr demnächst eine Stellenausschreibung in die Hände fallen, wäre sie optimal vorbereitet. Ihre Kollegen waren gute Polizisten, keine Frage. Femkes Leitungsjob hatte Prestige. Sie konnte stolz darauf sein, in Werlesiel etwas erreicht zu haben – doch, was war es denn am Ende? Sie leitete eine Provinzinspektion in ihrem Geburtsort. Da erwartete sie wahrlich mehr von sich. Aber wenn sie fortgehen würde, würde sie vieles zurücklassen müssen. Beim Gedanken an Justin wurde ihr das Herz schwer. Justin gehörte hierher wie der Wind.
Femke öffnete den kleinen Metallschrank an der Wand und nahm das Fahrtenbuch sowie den Schlüssel für den Streifenwagen heraus. Sie schloss das Schränkchen, blätterte kurz durch die Zeitung und warf sie dann mit der Post, bei der es sich lediglich um Werbung handelte, in den Abfall. Mit der Jacke in der Hand ging sie zurück in die Wachstube, wo Torsten gerade auflegte und Femke groß ansah.
»Das war eine Vermisstenmeldung.«
Femke verharrte in der Bewegung. »Aha?«
»Eine Vikki Rickmers aus Bornum.« Der Nachbarort Bornum war etwa acht Kilometer entfernt. »Sie ist seit gestern verschwunden«, las Torsten von einem Notizzettel ab. »Neunzehn Jahre alt, arbeitet im Sonnenstudio und gelegentlich im Club 69 . Sie wohnt in einer Zweier- WG . Ihre Mitbewohnerin hat angerufen.«
Das 69 war ein Swingerclub an der Bundesstraße. Es war bekannt, dass sich freiberuflich tätige Prostituierte dort verdingten, gelegentlich Zimmer anmieteten oder als Callgirls im
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