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Dünengrab

Dünengrab

Titel: Dünengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sven Koch
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    Der Nebel kroch wie ein lebendiges Wesen von der See her in die Bucht. Innerhalb weniger Minuten schob er sich, unbemerkt von allen Schlafenden, lautlos über das schwarze Watt und den weißen Sand, glitt mühelos über den Deich und den mit Sanddorn und Hagebuttenbüschen undurchdringlich bewachsenen Küstenstreifen. Im Hafen schloss er die vor Anker liegenden Boote und Schiffe ein. Schließlich erfüllte er den gesamten Ort mit seinem eiskalten Atem und machte jeden Blick auf den sternklaren Himmel in dieser vormals warmen Juninacht unmöglich.
    Jeder, der an der Küste lebt, weiß, wie der Nebel entsteht, dachte Fokko Broer. Warme Luft trifft auf kaltes Wasser oder kalte Luft auf warmes Wasser. Der Nebel taucht wie aus dem Nichts auf, und wer sich nicht auskennt oder im Watt ohne Kompass unterwegs ist, muss sich unweigerlich darin verirren. Priele, Schlickfelder oder Baggerlöcher sind lebensgefährliche Hindernisse. Immer wieder geschehen hier Unglücke, Sommer für Sommer. Einmal hat der Nebel spielende Kinder überrascht. Sie sind in einen der mäandrierenden Wasserläufe gestürzt, die im Wattenmeer bei Flut zu reißenden Strömen anwachsen. Der Junge hat überlebt. Seine Schwester nicht. Nordsee ist Mordsee, heißt es, und das Sprichwort hat seinen guten Grund. Aber man sagt auch, dass das Meer irgendwann alles zurückgibt, was es sich genommen hat. Und in der Werlesieler Gegend erzählt man den Kindern am flackernden Lagerfeuer in den Dünen oder in langen Winternächten am Kamin die Gruselgeschichte, wie mit dem Nebel das ertrunkene Mädchen käme und nach seinem Bruder suche. Ihr dünnes Haar hängt voller Seetang, die Augen sind weiß wie der Nebel selbst. Mit der verknöcherten, von Muscheln verkrusteten Hand klopft sie an die Fenster und ruft mit gurgelnder Stimme seinen Namen – um ihn mitzunehmen in die kalten Tiefen. Dann wird hinter dem Rücken auf Holz geklopft, um das Pochen der eisigen Hand zu imitieren: Klopf, klopf, klopf …
    Fokko Broer fröstelte. Er stand mit bloßem Oberkörper am offenen Fenster seines reetgedeckten Hauses weit außerhalb von Werlesiel und hing seinen Gedanken nach. Er hatte sich eben einen Tee gekocht und einen ordentlichen Schluck Rum dazugegossen, oder besser: dem Rum ein wenig Teegeschmack hinzugefügt. Er trank einen Schluck und genoss das Brennen in der Speiseröhre als Kontrast zu der Kühle, die der Seenebel mit sich führte. Es war ein heißer Tag gewesen, und im Haus war es immer noch stickig und schwül. Ein Klima, in dem seine Schlaflosigkeit, die Krankheit vieler alter Männer, prächtig gedieh. Gegen Mitternacht hatte Fokko sich aufs Bett gelegt und sich von einer Seite auf die andere gewälzt. Schließlich war er eingenickt, um wenig später schweißgebadet aus einem wirren Traum zu erwachen. Der Wecker zeigte 1.20 Uhr an. Seither wanderte er wie so oft rastlos im Haus hin und her und hoffte, dass der Alkohol ihn endlich müde werden ließe.
    Fokko sog ein Stück Kandis ein, lutschte daran, strich sich mit der Hand über den weißen, kurz gestutzten Bart und knackte den Zuckerklumpen mit den Backenzähnen. Es hörte sich unnatürlich laut an und dröhnte in seinem Kopf. Dann blickte er wieder nach draußen in das Nichts. Die Lampe der Außenbeleuchtung war nur noch als irrlichternder Schemen zu erkennen. In der Ferne röhrte ein Nebelhorn vom offenen Meer her. Als das Geräusch verklungen war, wurde es wieder grabesstill.
    Fokko wollte sich gerade umdrehen, um zu sehen, ob etwas im Nachtprogramm lief, womit er sich ablenken konnte, als er ein Geräusch wahrnahm. Er stellte die Teetasse zur Seite und lauschte vergeblich in die Leere. Er beschloss, dass wahrscheinlich sein Kater Smutje draußen eine Maus jagte. Andererseits hatte Smutje eben noch unter dem Küchentisch gelegen, und die Haustür war verschlossen. Na ja, dachte Fokko, dann vielleicht eine andere Katze, oder es tappte ein Fasan durch das Gras.
    Doch da war wieder etwas, und nun hörte Fokko sehr genau hin. Waren das Schritte? Ja, da waren Schritte, und sie klangen zu schwer und zu unregelmäßig, um von einem Tier zu stammen. Es klang so, als patschte etwas auf dem Bitumen der Küstenstraße, als schleppte sich jemand auf nassen Füßen voran. Die Schritte kamen näher und raschelten im Kies auf der Einfahrt. Zu dem Geräusch gesellte sich ein Keuchen und Wimmern.
    Fokkos mit Altersflecken gesprenkelte Hände zitterten. Er erschauderte. Jemand war da draußen und wollte offenbar zu ihm, aber

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